Der verurteilte Philosoph, die Satyrn und das Hässliche: Das frühe Sokrates-Porträt im Kontext
https://doi.org/10.34780/vm7e-66pi
Résumé
Geraume Zeit nach der Hinrichtung des Sokrates, aber lange vor dessen Rehabilitierung, beschloss eine Gruppe von Freunden, Sokrates in der Akademie eine Bildnisstatue zu weihen: Doch in welcher Form sollte er dargestellt werden – er, den die Polis nach einem ordentlichen Gerichtsverfahren als Verbrecher hatte hinrichten lassen? Schließlich fassten die Auftraggeber der Statue eine einigermaßen verblüffende Entscheidung: Sie ließen den verehrten Lehrer in Gestalt eines Satyrn darstellen. Die satyreske Physiognomie führte in verdichteter Form das intellektuelle und ethische Erbe des Sokrates vor Augen – ein Erbe, zu dem nicht zuletzt auch seine Verurteilung und sein Tod gehörten. Dieser Bildprägung ist ein unerhörter Erfolg beschieden gewesen. Sie hat alle späteren Versuche, Sokrates ins Bild zu setzen, in ihre eigene Bahn gezwungen. Schon Lysipp, bei dem die Polis nach der Rehabilitierung des Sokrates eine neue Bildnisstatue in Auftrag gab, scheint keine andere Möglichkeit mehr gesehen zu haben als die, den satyrhaften Typus beizubehalten. Der Erfolg dieser konstruierten Physiognomie ist so groß gewesen, dass ihr künstlicher Charakter darüber in Vergessenheit geriet: Was die Kunst geschaffen hatte, wurde der Natur zugeschrieben. Spätere Generationen haben nicht mehr daran gezweifelt, dass der lebendige Sokrates tatsächlich einem Satyrn ähnlich gesehen habe. Das gilt für bildende Kunst und Literatur, aber es gilt auch für die Altertumswissenschaft. Als Musterbeispiel dafür untersuchen wir den Beitrag von Bernhard Schweitzer, der das Sokrates-Porträt als das früheste überlieferte physiognomische Bildnis und als epochalen Wendepunkt in der Geschichte der griechischen Bildniskunst interpretiert hat.