Aristokratische Werte und bürokratisches Ethos in der spätrömischen Verwaltung: Johannes Lydos und Cassiodor im Vergleich.

Abstract

Die Verwaltung des spätrömischen Reiches entsprach dem Typ einer personalen Bürokratie (Peter Eich). Der Aufsatz versucht, den sozialen Habitus derjenigen zu erfassen, die innerhalb dieser Bürokratie tätig waren. Als Grundlage dienen zwei umfangreiche Textcorpora, die bislang nicht vergleichend betrachtet wurden: zum einen die Schrift des Präfekturbeamten Johannes Lydos über die Ämter des römischen Staates, zum anderen die Schreiben, die Cassiodor als Prätoriumspräfekt verfaßte und nach dem Ende seiner Amtstätigkeit als Teil der Varien veröffentlichte. Es wird gefragt, wie diese Autoren die Präfektur darstellen, welche Aufgaben sie Mitarbeitern und Vorgesetzten zuschreiben und welche Erwartungen sie formulieren, von welchen Voraussetzungen sie ausgehen und welche Urteilsmaßstäbe sie anlegen. Der Vergleich ergibt, daß Lydos und Cassiodor sich in einem System geteilter Überzeugungen bewegen. Dazu gehört neben der Überzeugung, einer Institution zu dienen, die den Herrscher überdauert und unabhängig von ihm besteht, die Forderung nach Engagement, Effizienz und Sachkompetenz. Das Recht, ein Amt als Einkommensquelle zu nutzen, wird dabei vorausgesetzt. Zugleich macht die Analyse deutlich, daß die administrative Elite sowohl emisch als auch etisch sehr heterogen war: Die Prätoriumspräfektur wird als eine hierarisch strukturierte Behörde beschrieben, deren Personal in Gruppen von sehr unterschiedlichem Status zerfiel. Diese Gruppen wiederum standen im Verhältnis gegenseitiger Konkurrenz. Cassiodor kultiviert auch als Präfekt den Habitus eines Aristokraten, während Lydos sich vollauf mit seiner Behörde identifiziert. Beim Vergleich werden aber auch Unterschiede sichtbar, die nicht durch die Gruppenzugehörigkeit bedingt sind: Während Lydos sich dem Vordringen christlich-asketischer Ideale verweigert, zeichnet Cassiodor ein Selbstporträt als Präfekt, in welchem römisches Amtsethos und christliche Moral in völliger Harmonie stehen.