certa clara affero? Senecas Apocolocyntosis und die Zeichensprache des Principats
https://doi.org/10.34780/c4nu-4b46
Abstract
Senecas satirische Schrift Apocolocyntosis ist nur vordergründig eine nachträgliche Kritik an der Herrschaft des Claudius. Der Autor vermittelt vielmehr ein vielschichtiges Bild von Politik und Gesellschaft der Frühen Kaiserzeit sowie ihrer spezifischen Ausdrucksformen. Unter Zuhilfenahme literaturwissenschaftlicher Analysetechniken und Konzepte erweist sich der Text in seiner Tiefenstruktur als ostentative Dekonstruktion der zeitgenössischen Kommunikationscodes. Seneca legt dabei insbesondere das Referentialitätsproblem der Zeichensprache des Principats offen. Indem er die Figur eines «unzuverlässigen Erzählers» einführt, wird die Beschreibungsqualität der ritualisierten sprachlichen Formen und Zeremonien des Principats thematisiert. Seneca wirft damit die Frage auf, welche Aussagen überhaupt noch normative Gültigkeit beanspruchen können. Konkret wird das an der Verspottung der Vergöttlichung des Claudius deutlich, bewusste Ambiguität durchzieht aber auch andere Passagen der Apocolocyntosis: So bleibt für den Rezipienten offen, ob die laudes Neronis tatsächlich ein Lob des neuen Princeps darstellen oder nicht eher als eine Persiflage der Enkomiastik zu verstehen sind. Ähnliches gilt auch für die mehrdeutig gezeichnete Figur des Augustus. Die einander widerstreitenden modernen Deutungen des Textes sind insofern das Ergebnis subtiler, aber sich absichtlich konterkarierender Leseanweisungen des Autors. In der Schrift spiegelt sich der prekäre Status Senecas als Aufsteiger aus dem Ritterstand, ehemals Verbannter und kritisch beobachteter magister Neros. Die Apocolocyntosis reflektiert aber auch Konkurrenzkämpfe innerhalb der Eliten und die Kontingenzerfahrungen führender Senatoren angesichts der schwebenden Bedrohung durch maiestas-Prozesse und Entziehung kaiserlicher Gunst.