Das Marmordach des Tempels A in Selinunt
1Südlich der im 6. Jh. v. Chr. auf der Selinuntiner Akropolis errichteten Tempel C und D wurde um die Mitte des 5. Jhs. v. Chr. im Rahmen eines Umbaus des archaischen Heiligtums mit dem Bau zweier zusätzlicher Peripteraltempel, den Tempeln A und O, begonnen.
2Bislang ist davon auszugehen, dass nur der nördliche der annähernd gleich dimensionierten Neubauten, Tempel A, tatsächlich fertiggestellt wurde, denn die Beschaffenheit der obersten erhaltenen Fundamentschicht des Tempels O lässt annehmen, dass auf ihr nie weitere Bauteile verlegt wurden[1]. Demnach werden nicht nur die zahlreichen, auf und neben den beiden südlichsten Tempel-Unterbauten liegenden Bauglieder dem Tempel A zugeordnet[2], sondern auch dutzende Fragmente eines marmornen Tempeldaches, die aus dem nahen Umfeld der Bauten stammen.
3Erste Hinweise zu einzelnen Dachfragmenten aus Marmor, die südlich des Tempels C bzw. nordwestlich des Tempels A entdeckt wurden, sind bereits den Grabungsberichten Cavallaris aus den Jahren 1876/1877 zu entnehmen[3]. Bei vielen der heute bekannten Elemente des Marmordaches handelt es sich aber um Fundstücke, die erst Gabrici einige Jahrzehnte später im Bereich der an die Tempel C, A und O angrenzenden Wohnbebauung registrierte. Er publizierte eine ausführliche Beschreibung der wichtigsten Fragmente und legte eine Rekonstruktion des prächtigen Dachrandes vor[4].
4Ergänzt werden die von Gabrici besprochenen Stücke durch Fragmente, die erst während der in den letzten Jahrzehnten in Selinunt erfolgten Grabungen geborgen wurden. Sie stammen hauptsächlich aus den Bereichen nördlich des Tempels A sowie der südlichen Zone der Akropolis und liegen in den Depots des Parco Archeologico di Selinunte[5]. Eine zusammenfassende Beschreibung der Fragmente sowie Überlegungen zum figürlichen Schmuck des Daches und dessen Zuordnung wurden kürzlich von C. M. Conti veröffentlicht[6].
5Im Zuge der Neuordnung des Museo Archeologico Regionale Antonino Salinas in Palermo wurden die im dortigen Depot gelagerten Fragmente des Marmordaches im Jahr 2014 erneut gesichtet sowie zeichnerisch und fotografisch dokumentiert[7]. Diese Übersicht über den Fundkomplex diente als Grundlage für die Auswahl und grafische Aufbereitung der repräsentativsten Fragmente des Daches, die seit der Wiedereröffnung der Selinunt-Abteilung des Museums im Jahr 2016 zu den Exponaten der ständigen Ausstellung gehören.
6Die Arbeit Gabricis konnte durch die jüngste Untersuchung weitgehend bestätigt, darüber hinaus in einigen Punkten aber auch präzisiert werden, sodass hier nun Überlegungen zu einer aktualisierten, umfassenderen Rekonstruktion des Daches vorgestellt werden können.
7Darauf basierend soll außerdem die Frage nach der Bedeutung des Daches, vor allem hinsichtlich der Verwendung des auf Sizilien so raren Baumaterials Marmor, angerissen und der Versuch einer Einordnung in einen größeren Kontext unternommen werden.
Fragmente
8Die Sammlung der mutmaßlich zum Tempeldach gehörenden Marmorteile im Museum umfasst knapp über 150 zum Teil sehr gut erhaltene Fragmente des Dachrandes, der Deckung und der Bauplastik[8].
9Von der umlaufend bemalten Sima haben sich sowohl Fragmente der Giebel- als auch der Langseite erhalten. Einige Blöcke mit Ansätzen von plastisch gearbeiteten Mähnen sowie fünf Fragmente von Köpfen und Schnauzen zeugen dabei von einer mit Löwenkopfwasserspeiern geschmückten Traufe. Dutzende Bruchstücke marmorner Dachziegel, darunter mehrere gut erhaltene Fragmente von Kalypteren und ein großer Rest eines Stroters ermöglichen es, das Prinzip der Deckung nachvollziehen zu können. Darüber hinaus haben sich fast 20 Fragmente von Firstpalmetten erhalten, die zusammen mit mindestens drei Fragmenten von Sphingenflügeln und dem Bruchstück eines Akroterbaums zusätzliche Anhaltspunkte für den plastischen Schmuck des Tempeldaches liefern. Ein weiteres Fragment deutet sogar auf die Existenz marmorner Akroter- oder Giebelfiguren hin, allerdings ist eine eindeutige Zuordnung aufgrund des stark ramponierten Zustandes des Stücks nicht möglich.
10Sollte auch ein marmorner Kymablock zum selben Bau gehören, ist zudem davon auszugehen, dass neben dem Dachrand[9] auch manche der diesem als Auflager dienenden Elemente aus Marmor gefertigt waren.
11Die Bauteile lassen in vielen Fällen Spuren der verwendeten Werkzeuge erkennen und wurden im Großen und Ganzen sehr sorgfältig gearbeitet. Die zu konstatierenden Maßschwankungen sind wohl meist auf eine individuelle, vor Ort erfolgte Anpassung zurückführen.
Sima
13Giebel- und Traufsima setzen sich jeweils aus zwei Steinlagen zusammen[12].
Sima unten (Giebel)
14Vom unteren Teil der Giebelsima hat sich ein Block erhalten, das Fragment N. I. 66291 (Abb. 1). An beiden Seiten sind Reste einer Verfalzung zu erkennen, die eine zweifelsfreie Zuordnung des Blockes auf die linke Giebelseite ermöglichen[13]. Da der Giebelsimastroter wie üblich an die Frontplatte angearbeitet war[14], nimmt die Dicke des Fragments N. I. 66291 vom Oberlager bis zum Ansatz des nicht erhaltenen Stroters zu. Die ungefähre Dicke des Stroters lässt sich an der Bruchkante auf der Rückseite ablesen. Sie beträgt an dem First zugewandten Ende ca. 5 cm und steigt zum traufseitigen Ende auf ca. 9 cm an[15]. Die Frontseite des Blocks verläuft in vertikaler Richtung ganz leicht konkav und ist geschliffen. Auf der linken Hälfte sind einige spärliche Reste der ursprünglichen Bemalung auszumachen, die jedoch keine sichere Rekonstruktion des Ornaments erlauben. Das teilweise ausgebrochene, 8,5 cm tiefe Oberlager ist mit zwei Runddübellöchern versehen. Im Gegensatz zum jeweils unterschiedlichen Abstand zu den Seiten, der 7,5 und 9,6 cm beträgt, sind Tiefe und Durchmesser der beiden Löcher nahezu identisch[16]. Das Bauteil ist 25,7 cm hoch, seine Länge beträgt zwischen den Falzen 65,5 cm. Analog zu einem 5 cm breiten Streifen, der sich am Stroter N. I. 66292 parallel zur Oberkante abzeichnet und weiter unten noch Erwähnung findet, wird die ursprüngliche Länge der Deck- und Lagerfalze mit jeweils 5 cm rekonstruiert[17]. Dadurch ergibt sich eine originale Gesamtlänge des Blocks von 75,5 cm und eine auf der Giebelseite sichtbare Länge von 70,5 cm[18].
Sima unten (Traufe)
15Sechs Fragmente, von denen keines in seiner ursprünglichen Höhe und Breite erhalten ist, lassen sich eindeutig dem unteren Bereich der Traufsima zuordnen, da sie Reste von Löwenmähnen erkennen lassen und/oder ihre erhaltenen Seiten mit einer für die unteren Blöcke der Traufseite charakteristischen Anathyrose versehen sind[19] (Abb. 2a. b). Der Abstand der seitlichen Kanten zum Ansatz der Löwenmähnen ist von Block zu Block unterschiedlich, er liegt zwischen 13 und 16,2 cm[20]. Die Köpfe saßen also möglicherweise nicht genau auf der Mittelachse des jeweiligen Blocks, zudem scheint ihre Breite leicht variiert zu haben[21]: Eine Rekonstruktion des Durchmessers anhand der Abbruchkanten der Mähnen führt zu Werten zwischen 26 und 30 cm[22]. Unterlager und Vorderseite der Simablöcke bilden einen Winkel von ca. 89°, die Frontplatten kippen also minimal nach hinten[23]. Sie sind, abgesehen vom Bereich der Löwenmähnen, geschliffen. Vier Fragmente, N. I. 66429, 66430, 66431 und 66434, zeigen außerdem deutliche Spuren eines ehemals farbig gefassten Ornaments in Form von Palmetten, Lotosblüten und Spiralvoluten. An fast allen Oberlagern, deren Tiefe – soweit messbar – zwischen 7,4 und 7,7 cm liegt, haben sich die Bohrlochreste für Dorne von U-Klammern erhalten[24]. Bei den Fragmenten N. I. 66433 und 66434 sind außerdem Schwalbenschwanzbettungen, bei letzterem auch eine Markierung[25] erkennbar. Reste von Runddübellöchern sind nur an den Oberlagern der Fragmente N. I. 66429 und 66433 zu identifizieren. Ersteres besitzt einen Durchmesser von ca. 2 cm, der Abstand zur erhaltenen rechten Kante beträgt 3 cm und die ursprüngliche Tiefe lag bei ca. 6 cm[26]. Die Bohrung des anderen Fragments erreicht eine Tiefe von 7,7 cm und ist 12,4 cm vom seitlichen Rand entfernt. Der Durchmesser lässt sich nicht ermitteln, da ein Teil des Dübelloches abgebrochen ist. Wie das Simafragment der Giebelseite werden auch die Blöcke der Traufseite nach unten tiefer, da sie ursprünglich ca. 7,5 cm über der Unterkante in angearbeitete Traufstrotere übergingen[27]. Bei den Fragmenten N. I. 66429, 66430, 66431 und 66432 ist der Ansatz der Strotere noch erkennbar, letztere haben sich aber in keinem Fall in erwähnenswerter Länge erhalten[28].
Löwenköpfe
16Von den Köpfen der Löwen existieren noch fünf Fragmente: ein Teil einer Schnauze, zwei Reste von Unterkiefern samt Lefzen und Zähnen sowie zwei große Bruchstücke vom vorderen Teil verschiedener Köpfe (Abb. 3a. b. c), die Auskunft über die Form von Augen, Stirn, Schläfen, Ohren und Mähne geben[29]. Das Gesicht wird geprägt durch deutlich hervortretende Wangenknochen und eine Kehle auf der Stirn[30]. Zwischen dem Augeninnenwinkel und dem oberen Ansatz der Schnauze sind Falten zu erkennen, die dem Löwenkopf im Zusammenspiel mit dem geöffneten Maul eine gewisse Aggressivität verleihen. Die eingekerbten Schnurrhaare verlaufen relativ geradlinig und die herabhängenden Lefzen geben den Blick auf das Gebiss frei. Die eng anliegende Mähne ist in drei Kränze gegliedert, die einzelnen Strähnen sind an den Spitzen jeweils nach oben gebogen[31]. Die Breite des Rachens, durch den das Wasser geleitet wurde, misst 10 bis 11 cm, die Breite der Schnauze liegt an der Spitze bei ca. 13 cm. Die maximale erhaltene Breite von ca. 24 cm lässt sich am Fragment N. I. 66307 ermitteln, bei dem sich die Mähne in Teilen bis zur dritten Kranzreihe erhalten hat. Die ursprüngliche Breite des Löwenkopfes samt Mähne betrug, wie gerade erwähnt, also nur einige Zentimeter mehr[32].
17Die ursprüngliche Höhe der unteren Traufsimablöcke lässt sich mittels Montage der Profile der einzelnen Fragmente rekonstruieren und entsprach der Höhe des unteren Giebelsimablocks von 25,7 cm. Die ursprüngliche Breite der unteren Traufsimablöcke kann dagegen nur annäherungsweise ermittelt werden. Ausgehend von einem durchschnittlichen Abstand der Löwenköpfe zu den Seiten von jeweils knapp 15 cm[33] und einer erhaltenen maximalen Breite der Löwenköpfe von 24 cm bzw. einer geschätzten originalen Breite von 26 bis 30 cm ist zunächst anzunehmen, dass die Gesamtbreite der Blöcke zwischen 54 und 60 cm lag[34].
Sima oben
18Die Fragmente, die sich vom oberen Teil der Sima erhalten haben, lassen sich in zwei Gruppen einteilen, die sich in erster Linie durch ihr unterschiedliches Profil voneinander unterscheiden.
19Die Fragmente der ersten Gruppe zeichnen sich durch eine senkrecht zu Ober- und Unterlager verlaufende Rückseite aus[35] (Abb. 4). Das korinthische Profil gliedert sich in ein ca. 8,5 cm hohes, glattes Kopfband sowie ein 10,5 cm hohes Kyma und ist zusätzlich mit einem ca. 2,7 cm hohen unteren Rundstab versehen. Die Gesamthöhe beläuft sich damit auf 21,7 cm. Die Oberfläche ist geschliffen und war, wie die untere Zone der Sima, ursprünglich reich bemalt: Im Bereich des Kymas haben sich Spuren der Blätter, Stege und Zwischenspitzen eines Blattstabes erhalten. Keines der Fragmente ist in seiner ursprünglichen Breite erhalten, das kürzeste misst > 24,4 cm, das längste > 48,5 cm[36]. Die erhaltenen Seitenflächen sind mit Anathyrosen versehen. Die Unterlager besitzen eine Tiefe von 7,8 cm, die Tiefe der Oberlager liegt bei 10,6 bis 10,7 cm. Auf fast allen Oberlagern finden sich Reste von Bohrungen für Klammerdorne[37] und Schwalbenschwanzbettungen sowie Markierungen[38]. Alle Fragmente wurden am Unterlager mit Runddübellöchern versehen, die eine Höhe von 7,5 bis 8,5 cm erreichen und mit einem schräg verlaufenden Gusskanal verbunden sind, dessen Öffnung auf der Rückseite der Blöcke liegt[39]. Die Lage der Dübellöcher divergiert stark, ihre Entfernung zu den erhaltenen Seitenflächen liegt zwischen 21,2 und 45,5 cm.
20Die zweite Gruppe von Fragmenten unterscheidet sich hauptsächlich durch eine gegenüber dem Unterlager um ca. 72 bis 77,5° nach vorne geneigte Rückseite[40] (Abb. 5). Die Oberlager der Blöcke sind dadurch deutlich schmaler, nämlich ca. 6,3 cm. Die Unterlager sind mit 8,4 cm dagegen etwas tiefer als die der anderen Gruppe. Die ebenfalls in Kopfband, Kyma und Rundstab gegliederten Vorderseiten weisen dagegen nahezu die gleichen Einzelmaße auf, die Gesamthöhe von 21,3 bis 21,6 cm ist beinahe identisch mit derjenigen der Blöcke mit senkrechter Rückseite. Nur das Kyma wölbt sich um ca. 3° weiter nach vorne als das der anderen Gruppe (Abb. 6). Hinsichtlich der Oberflächengestaltung kann nur im Bereich der Kopfbänder ein Unterschied festgestellt werden: An mehreren Fragmenten sind Spuren von einem oder zwei horizontalen Streifen erkennbar, die sich auf keinem der Simablöcke der anderen Gruppe beobachten lassen. Alle Fragmente sind an mindestens einer Seite abgebrochen, die erhaltenen Breiten liegen zwischen 23 und 48 cm[41]. Auf den Oberlagern der Fragmente N. I. 66278 und 66287 sind Reste von Klammerdorn-Bohrungen erkennbar und am breitesten Block N. I. 66279 ist die Hälfte einer Z-förmigen Klammerbettung erhalten.
21An den Unterlagern bzw. ausgebrochenen Seitenflächen sind Reste von 6,5 bis 7,5 cm tiefen Dübellöchern und schräg verlaufende Gusskanäle sichtbar[42]. Die Abstände zu den erhaltenen Seitenflächen sind mit 16,6 bis 42,5 cm ebenfalls höchst unterschiedlich.
22Ausschlaggebend für die Zuordnung der Fragmente zu Trauf- und Giebelseite sind die leicht voneinander abweichenden Tiefen ihrer Unter- bzw. Oberlager. So werden die Blöcke mit senkrechter Rückseite und 7,8 cm tiefen Unterlagern den Frontplatten der Traufseite mit 7,4 bis 7,7 cm tiefen Oberlagern zugewiesen. Die Bauteile mit geneigter Rückseite und 8,4 cm tiefen Unterlagern gehören folglich zum unteren Giebelsima-Block mit 8,5 cm tiefem Oberlager[43].
23Sechs obere Simablöcke sind nur so fragmentarisch erhalten, dass sie keiner der beiden Gruppen eindeutig zugeordnet werden können[44].
Ziegel
24Unter den über 100 Bruchstücken, die sich eindeutig der Dachhaut zuordnen lassen, finden sich neben einer großen Anzahl stark fragmentierter und deshalb nur bedingt auswertbarer Flach- und Deckziegel auch 14 besonders aussagekräftige Bauteile.
Flachziegel
25Das besterhaltene unter den Stroter-Fragmenten, N. I. 66292 (Abb. 7), besitzt eine Länge von > 45 cm und eine Breite von > 43 cm. Die linke Seite sowie der traufseitige Teil des Ziegels sind gänzlich abgebrochen, der rechte Rand sowie die firstseitige Kante haben sich jedoch partiell erhalten. Es handelt sich um einen korinthischen Flachziegel, dessen Stärke an der zum First zeigenden Kante 5 cm beträgt, zum ca. 4 cm breiten seitlichen Rand hin über eine Kehle zunimmt und nach unten Richtung Traufe linear ansteigt[45]. An der traufseitigen Abbruchkante misst die Stärke der Ziegelfläche 5,65 cm, die des Randes 7,8 cm. Die Unterseite ist bis auf fein bearbeitete, 8 bis 10 cm breite Randstreifen grob gespitzt. Die Oberseite des Fragments ist geschliffen. Beide erhaltenen Kanten werden von einer im Abstand von 5 cm (oberes Ende) bzw. 10,3 cm (seitlicher Rand) umlaufenden Rille gesäumt, die den Bereich markiert, der von den darüber liegenden Ziegeln bedeckt wurde[46]. 28,5 cm vom erhaltenen seitlichen Rand entfernt lässt sich außerdem eine in Längsrichtung verlaufende Ritzlinie ausmachen. Sollte diese die Mittelachse markieren, läge die Ziegelbreite bei 57 cm[47]. Der Falz am unteren Ende des Flachziegels lässt sich nicht nur auf Basis der bereits erwähnten Kerbe auf dem Oberlager, die die Tiefe des Falzes des überlappenden Ziegels angibt, rekonstruieren, sondern auch unmittelbar an zwei Fragmenten nachweisen: bei dem einen[48] hat sich der Ansatz eines solchen Falzes erhalten, bei dem anderen[49] handelt es sich um einen Teil eines Deckfalzes. Die Stärke dieses Bruchstücks, das im Querschnitt einer Platte mit aufgebogenen Rändern gleicht, beträgt in der Mitte nur noch 2,65 cm und am Rand 3,3 cm. Die Oberfläche des Fragments ist geschliffen und die Unterseite bis auf einen sorgsam geglätteten, ca. 1,5 cm breiten Saum grob gespitzt. Da das Fragment eine Länge von ≥ 15 cm besitzt, ist davon auszugehen, dass es neben Ziegeln mit einer Falzlänge von 5 cm auch Stücke mit längeren Falzen gegeben hat[50] oder dass das Fragment nicht zum selben Dach gehört. In Analogie zur rekonstruierten Länge des erhaltenen Fragments der Giebelsima N. I. 66291 wird eine originale Achslänge des Stroters von 75,5 cm angenommen[51]. Das Verhältnis von Länge zu Breite läge dann in etwa bei 2:3[52], die Stärke des Ziegels betrüge am traufseitigen Ende in der Mitte des Ziegels ca. 8 cm, am Rand ca. 9 cm.
26Es muss in Erwägung gezogen werden, dass die Stroterfragmente, insbesondere das Stück N. I. 66292, sowohl von Normalstroteren als auch von Giebelsimastroteren stammen könnten[53].
Deckziegel
27Die korinthischen Deckziegel besitzen, soweit messbar, alle eine Gesamtbreite von 21,5 cm[54]. Die Oberseiten sowie die vorderen und seitlichen Ränder sind glatt bearbeitet, einzig die dem First zugewandten Ränder der Bauteile sind weniger fein geglättet. Auf mehreren Deckziegeln zeichnen sich knapp 8 cm vom oberen Ende entfernt leichte Korrosionsspuren ab[55]. Die Unterseiten sind grob gespitzt und jeweils mit einem Steg versehen, dessen Abstand zur vorderen Kante des Ziegels 8 bis 9,5 cm beträgt. Der Deckziegel N. I. 66289 ist, abgesehen von einer leicht beschädigten Ecke, unversehrt. Seine Gesamtlänge beträgt 66 cm[56] (Abb. 8).
Knickkalyptere mit Palmetten
28Von den mit Palmetten in Firstrichtung bekrönten Knickkalypteren existieren insgesamt noch 19 Fragmente, darunter 16 Bruchstücke von Palmetten[57] und drei mit Resten der Ziegel[58]. Die Gesamtbreite, die Breite der einzelnen Schenkel und auch deren Winkel zueinander stimmen mit den Maßen der Normalkalyptere überein. Die Stärke der Schenkel schwankt mit 2,5 bis 4,6 cm dagegen leicht. Der Winkel zwischen den beiden Kalypteren beträgt 145 bis 145,5°.
29Über den Firsten der Kalyptere liegen jeweils zwei s-förmige Volutenranken, über welchen aus einem Kern eine neunblättrige, etwa 23 cm hohe und 23 bis 24 cm breite Palmette emporwächst[59] (Abb. 9a. b). Die Blätter sind an ihren Enden rund – die seitlichen hängen ganz leicht nach unten –, haben keine Grate und sind durch Zwischenblätter getrennt. Die Höhe vom höchsten Punkt des Kalypters, also inklusive der Ranken, bis zur oberen Spitze des mittleren Palmettenblatts wird ursprünglich bei ca. 28 cm gelegen haben. Die Dicke des Elements beträgt zwischen den Spiralen bis zu 6,5 cm. Zu den Rändern und nach oben hin verjüngt es sich, die Palmette ist an der erhaltenen Spitze noch ca. 3,2 cm stark. Das maximale Breitenmaß von ca. 34 cm lässt sich auf Höhe der unteren Voluten, die einige Zentimeter über den Kalypter hinausragen, ermitteln.
30Obwohl die Struktur der Firstpalmetten prinzipiell achsensymmetrisch aufgebaut ist, lassen sich an einigen Fragmenten kleine Abweichungen ausmachen[60]. Zudem lässt sich feststellen, dass weder die beiden Ansichten einer Palmette, noch die verschiedenen Palmetten selbst zwingend kongruent waren[61]. Die meisten erhaltenen Teile von Ranken und Palmetten sind beidseitig als Relief ausgearbeitet (Abb. 9b), das an Stellen mit kaum verwitterter Oberfläche ca. 4 mm tief ist. Beim Fragment N. I. 66444 treten allerdings nur die Ranken und der Palmettenkern plastisch hervor, der Bereich der Blätter ist auf beiden Seiten lediglich sauber geglättet. Gleiches gilt für die Fragmente N. I. 66446 A-B, auf denen auf der ebenen Fläche noch Spuren der einst aufgemalten Zwischenblätter zu erkennen sind (Abb. 9c)[62].
Akroterbaum
31Das Fragment N. I. 66435 (Abb. 10a. b) lässt sich zweifelsfrei einem Volutenbaum[63] zuordnen. Auf der reliefierten Vorderseite des Bruchstücks ist jener Bereich einer Ranke zu erkennen, an dem sich diese in zwei unterschiedlich breite Triebe teilt. Die durch eine Mittelrippe gegliederte, also doppelt konkave, linke Spirale ist an der oberen Abbruchkante ca. 10,5 cm breit, die einfach gekehlte rechte ca. 6 cm[64]. Die Dicke beträgt einheitlich ca. 8,8 cm. Am unteren Ende des Bruchstücks, an dem die zwei verschiedenartigen Ranken zusammenlaufen[65], liegt die Breite bei 11,5 cm, die Dicke bei 9,1 cm. Zwischen der Gabelung der beiden Spiralen sitzt eine fünfblättrige, heute etwas bestoßene Zwickelpalmette mit fünf wulstigen, oben gerundeten Blättern. Die Rückseite des Fragments ist glatt und in Querrichtung leicht konkav gearbeitet[66]. Die ursprünglich glatt gearbeiteten Seitenflächen sind etwas verwittert. Der Asymmetrie der Ranken nach zu schließen, dürfte es sich bei dem Bruchstück um einen der seitlichen Triebe eines Akroterbaums handeln[67].
Sphingen
32Auch vom figürlichen Schmuck des Tempeldaches haben sich einige Fragmente erhalten. Bei dem > 16 cm breiten, > 20 cm langen und nur 2,25 cm dicken, leicht gekrümmten Fragment N. I. 66440 (Abb. 11) handelt es sich um das Bruchstück eines rechten Sphingenflügels[68]. Auch zwei ebenfalls leicht gekrümmte, ca. 2,5 cm bzw. 2,9 bis 3,9 cm starke Fragmente[69] werden von Sphingenflügeln stammen. Zwei Bruchstücke[70] mit konvex geformter bzw. doppelt gekrümmter Oberfläche könnten, ihrer Form nach zu urteilen, zum Körper einer Sphinx gehört haben[71]. Ob die Fragmente von verschiedenen Sphingen stammen oder alle Teil derselben Figur waren, lässt sich nicht klären. Ebenso ungewiss ist, ob es sich bei dem flachen Fragment mit Vertiefung[72] um Reste einer Standplatte oder eines zugehörigen Eckkastens handelt[73].
Akroter- / Giebelfiguren
33Neben diesen Stücken findet sich ein weiteres Fragment[74], das zur Bauplastik des Tempels gehört haben könnte (Abb. 12). Die bildhauerische Ausarbeitung – u. a. mutmaßliche Reste von Gewandfalten –, die an drei Stellen erkennbar ist[75], legt nahe, dass das Stück ursprünglich vielleicht Teil einer Akroter- oder Giebelfigur war. Die Plastizität der erhaltenen Oberflächen entspricht der Gestaltung der Löwenköpfe des Daches[76], darüber hinaus erlaubt der Erhaltungszustand, wie bereits eingangs erwähnt, jedoch keine genauere Zuordnung[77].
Kyma
34Das zu einem Kranzgesims gehörende Bauteil N. I. 66288 (Abb. 13) ist durch ein ausladendes dorisches Kyma, dessen oberer Ansatz sich durch einen deutlichen Knick im Winkel von ca. 16° vom Oberlager absetzt[78], sowie durch einen Rundstab gekennzeichnet, der das Profil am unteren Rand des Blocks abschließt. Auf dem Oberlager hat sich ein dreieckiges Dornloch in einer Klammerbettung erhalten. Eindeutige Spuren einer Bemalung lassen sich auf der Vorderseite nicht ausmachen, es sind jedoch diffuse Reste roter Farbe am rechten Rand der Vorderseite erkennbar. Die linke Anschlussfläche des Bauglieds fehlt, die erhaltene Breite liegt bei > 43,5 cm. Die Gesamthöhe des Blocks beträgt 19,3 cm, die Tiefe seines Unterlagers 20,5 cm[79].
Rekonstruktion
36Auch die Schräge am oberen Ansatz des gerade besprochenen Kymablocks, der knapp 16° geneigt ist, würde zu diesem Winkel passen. Ob das Bauteil aber tatsächlich zum Traufgeison des hier besprochenen Marmordaches gehört, kann erst auf Basis der neuen Rekonstruktion des gesamten Kranzgesimses entschieden werden[82].
Sima
37Die Struktur der Sima entspricht der in Sizilien und Unteritalien im 5. Jh. v. Chr. häufig verwendeten Form mit glattem, an den Traufseiten mit den für Westgriechenland so charakteristischen Löwenkopfwasserspeiern[83] versehenem Sockel und darüber liegendem Profil mit Rundstab, Welle und Kopfband[84]. Allerdings ist die Sockelzone bei den meisten Vergleichsbeispielen im Verhältnis höher als das oberhalb sitzende Profil, während Sockel und Profil der Selinuntiner Wellensima fast gleich hoch sind.
38Der Rand des Daches setzte sich sowohl auf den Trauf- als auch den Giebelseiten aus einem jeweils separat gefertigten oberen und unteren Teil zusammen[85]. Die Gesamthöhe beträgt auf beiden Seiten einheitlich 47 bis 47,4 cm[86]. Wie an den Bettungs- und Bohrlochresten zu erkennen ist, waren die einzelnen Blöcke in horizontaler Richtung mit Klammern und in vertikaler Richtung mit Dübeln fixiert[87]. Die uneinheitliche Platzierung der Dübellöcher an den Unterlagern der oberen Simablöcke wie auch die gleichermaßen variierende Anordnung ihrer Gegenstücke an den Oberlagern der unteren Simablöcke lassen auf ein uneinheitliches System schließen[88]. Nicht auszuschließen ist deshalb, dass die oberen Blöcke sowohl der Giebel- als auch der Traufsima nicht alle in der gleichen Länge, sondern mit unterschiedlichen Maßen zu rekonstruieren sind[89]. An den Unterlagern der unteren Giebel- und Traufsimafragmente finden sich keine Einlassungen für Dübel, weshalb davon auszugehen ist, dass diese Bauteile erst im Bereich der an sie angearbeiteten Strotere mit den darunterliegenden Bauteilen verbunden waren, wie beispielsweise die Traufstrotere des Marmordachs von Metapont [90]. Eine Fixierung nicht nur der Giebel- sondern auch der Traufsimablöcke scheint jedenfalls notwendig, falls letztere in Schräglage montiert waren[91].
39Was mit den unterschiedlichen Formen der oberen Giebel- und Traufsimablöcke bezweckt werden sollte, lässt sich nicht eindeutig nachvollziehen. Möglicherweise wurde die Rückseite des oberen Teils der Giebelsima an die wegen einer möglichen Verbauung in Schräglage ebenfalls leicht nach vorne kippende Rückseite der Traufsimablöcke angepasst. Mit der auf der Giebelseite etwas stärker hervortretenden Wellensima könnte außerdem der Unterschied zur stärker überhängenden Traufsimafront abgemildert worden sein[92].
40Auf jeden Fall brachte die Verringerung der Querschnittsfläche auch eine Reduktion der Lasten auf der Giebelseite mit sich[93].
41Die horizontal zweigeteilte Sima zeugt von einem wirtschaftlichen Umgang mit dem teuren Material Marmor, da für die Herstellung der Bauteile entsprechend niedrigere bzw. schmalere Quader verwendet werden konnten und somit weniger Restmaterial anfiel als es bei der Anfertigung einer monolithischen Sima mit angearbeitetem Traufstroter der Fall gewesen wäre. Die oberen Teile der Sima ließen sich ggf. sogar aus dem bei der Anfertigung der unteren Simablöcke übrig gebliebenen Material herausarbeiten[94].
42Zudem konnte durch die Teilung der Sima in zwei separate und somit kompaktere Bauteile die Bruchgefahr während Herstellung, Transport und Montage verringert werden.
Ornamente
44Den unteren Teil der Sima zierte ein Anthemienfries. Über Volutenranken, die einen Bogenfries bilden, wechseln sich neunblättrige Palmetten mit stilisierten dreiblättrigen Lotosblüten ab. Auf der Traufseite sitzt an Stelle jeder zweiten Palmette ein Löwenkopf-Wasserspeier. Die Kerne der Palmetten sind oval, ebenso die Umrisslinie ihrer an den Enden abgerundeten und seitlich leicht nach unten hängenden Blätter[96]. Sie werden von den Lotosblütenblättern, deren Blattspitzen sich bis knapp an die Oberkanten der 25,7 cm hohen Ornamentzone rekonstruieren lassen, gerahmt. Die genaue Form der Lotoskelche ist nicht nachvollziehbar, da sich an den entsprechenden Stellen keinerlei Reste einer Bemalung finden. Sie werden hier in Anlehnung an unten genannte Vergleichsbeispiele deutlich V-förmiger rekonstruiert als von Gabrici. Wie der Bereich zwischen den Volutenenden und dem Kelch der Lotosblüte gestaltet war, ist ebenfalls unbekannt. Für die von Gabrici bis unmittelbar an den Lotoskelch hochgezogenen Rankenenden fand sich kein Beleg. Das Fragment N. I. 66431 erweckt vielmehr den Eindruck, die Enden lägen nur ca. 8 cm über der Unterkante. Dann wäre wahrscheinlich ein zwischen den Volutenenden und dem Kelch vermittelndes Element oder sogar eine zusätzliche Reihe Kelchblätter zu ergänzen. In den Rankenzwickeln unterhalb der Lotosblüte sind tropfenförmige, hängende Blätter oder Knospen erkennbar. Ob auch die Zwickel unterhalb der Palmetten gefüllt waren, ist nicht klar. Die auf den Fragmenten N. I. 66429 und 66431 sichtbare Ritzlinie, die ca. 1 cm über der unteren Kante verläuft, wird entweder als Hilfslinie während der Bemalung gedient oder einen Begleitstreifen am unteren Rand des Bauteils begrenzt haben, auf dem die Ornamente dann gewissermaßen standen.
45Eine Gegenüberstellung aller relevanter Fragmente zeigt, dass die Ausführung der einzelnen Elemente durchaus voneinander abweicht. So unterscheiden sich die Umrisse der seitlichen Lotosblütenblätter und auch der Mittelblätter bei den Fragmenten N. I. 66430 und 66434. Des Weiteren sind die Palmettenblätter auf dem Fragment N. I. 66434 in größerem Abstand zueinander angeordnet als die auf dem Fragment N. I. 66429. Zudem weichen die Abstände der Blockseiten respektive der Fugen zu den Mittelachsen der Lotosblüten um bis zu 2 cm voneinander ab[97]. Die Palmetten, die auf der Traufseite alle von einer Fuge geteilt werden, hätten also teilweise deutlich gestaucht werden müssen, um ihre Mittelachsen in Deckung mit den Stoßfugen zu bringen. Insbesondere das Fragment N. I. 66429 zeigt jedoch, dass eine Veränderung der Proportionen vermieden und stattdessen einfach die Mittelachse auf den jeweils angrenzenden Block verschoben wurde[98] (Abb. 14b). Während der folglich erst nach dem Versetzen der Simablöcke durchgeführten Bemalung[99] reagierte man also flexibel und nutzte den insgesamt für einen Rapport zur Verfügung stehenden Platz im Sinne einer möglichst regelmäßigen Ornamentabfolge. Aus diesem Grund können die Ornamentachsen aber nicht zur Längenrekonstruktion der unteren Traufblöcke herangezogen werden.
46Die Ornamente liegen relativ eng nebeneinander, das Verhältnis der Ornamenthöhe zum Achsabstand beträgt etwa 2:1[100].
47Auf den giebelseitigen unteren Simablöcken lässt sich die Ornamentabfolge wegen der spärlichen Befunde nicht eindeutig nachvollziehen. Die Elemente werden aber analog zur Traufseite ebenfalls mit Volutenranken sowie einem Lotos-Palmettenfries bemalt gewesen sein[101].
48Die oberen Simablöcke waren umlaufend mit einem Eierstab geschmückt. Besonders gut sind die Zwischenspitzen sowie der nur leicht gekrümmte Verlauf der länglichen, unten fast spitz zusammenlaufenden Blätter auf den Fragmenten N. I. 66276, 66277, 66279 (Abb. 14c), 66284 und 66285 zu erkennen[102]. Das Kopfband war, zumindest auf der Giebelseite, am oberen und unteren Rand mit Streifen verziert (Abb. 14d)[103]. Zwar unterscheiden sich die Achsabstände der Blattspitzen bzw. der Hüllblätter auf Giebel- und Traufsimablöcken[104], beiden Rastern ist jedoch gemeinsam, dass sie weder Bezug zu den Fugen[105] noch zu den Achsen der Bemalung der unteren Simablöcke nehmen, also nicht in Konkordanz stehen.
Farbe
49An den oberen Traufsimablöcken zeichnen sich die Hüllblätter des Blattstabs durch eine glatte, leicht erhöhte Oberfläche ab. Im Bereich der Zwischenblätter ist der Marmor dagegen teilweise dunkel verfärbt oder etwas stärker verwittert (Abb. 15a). Letzteres lässt sich auch für die Blätter selbst konstatieren. Für die Darstellung der Hüllblätter dürfte also eine Farbe verwendet worden sein, die länger auf dem Untergrund haftete, für die Blätter und Zwischenspitzen dagegen eine schneller verwitternde Farbe[106].
50Auf den oberen Blöcken der Giebelsima heben sich nicht nur die Hüllblätter durch eine gut erhaltene und folglich leicht erhöhte Oberfläche ab, sondern, im Unterschied zur Traufsima, auch die Zwischenspitzen (Abb. 14c). Möglicherweise unterschied sich die Farbfassung der Tempelfront in diesem Punkt also leicht von der auf den Langseiten des Baus[107]. Die das Kopfband zierenden Streifen sind ebenfalls alle glatt und leicht erhöht oder etwas heller als die benachbarte Oberfläche. Auf ihnen wird also vermutlich ebenfalls eine haltbarere Farbe aufgetragen worden sein.
51Die auf den unteren Traufsimablöcken eindeutig identifizierbaren Bestandteile des Dekors – also Palmetten, Lotosblüten, Voluten und Knospen – sind fast alle leicht erhöht oder etwas heller als die angrenzende Marmoroberfläche (Abb. 15b). Einzig das zweite Blatt der halben Palmette auf dem Fragment N. I. 66429 zeichnet sich, im Gegensatz zu den anderen, nur vage ab. Die Kelche der Lotosblüten treten dagegen so gut wie überhaupt nicht in Erscheinung. Lediglich auf dem Fragment N. I. 66431 deutet ein V-förmiger, leicht erhöhter und glatter Bereich den Umriss eines Kelches an. Die Palmettenblätter und auch die Kelche könnten demzufolge in wechselnden, teils eben auch weniger haltbaren Farben gefasst gewesen sein. Angesichts der im Bereich der Voluten, Blüten und Palmetten in den meisten Fällen gut erhaltenen Oberflächen wäre dagegen anzunehmen, dass diese Elemente alle mit einer haltbareren Farbe aufgetragen wurden.
52Da sich keinerlei Fassungsreste erhalten haben und sich die genaue Farbgestaltung somit nicht eindeutig nachvollziehen lässt[108], wurde auf eine Farbrekonstruktion verzichtet.
Einordnung
53Lotos-Palmettenfriese stellten auch in Unteritalien und Sizilien ein beliebtes Motiv zum Schmuck von Dachrändern dar[109]. Einige dieser Exemplare lassen deutliche Ähnlichkeiten zum soeben beschriebenen Anthemienfries erkennen, darunter das Anthemion der tönernen Sima des Tempels C in Selinunt, das auf die Mitte des 6. Jhs. v. Chr. datiert wird[110]. Zwar sind die Spiralen wesentlich dünner und die Spitzen der äußeren Lotosblätter berühren sich über den Palmetten, aber die Formen sowohl der Lotosblüte als auch der nicht besonders dicht stehenden, leicht nach unten hängenden Palmettenblätter sind fast identisch mit den hier besprochenen. Ein weiteres Vergleichsbeispiel ist die nach 480 v. Chr. entstandene, bemalte Steinsima des Siegestempels in Himera [111]. Abgesehen von den sich auch unter den Lotosblüten aufrollenden, ebenfalls wesentlich dünneren Ranken und dem linsen- statt rautenförmigen mittleren Lotosblatt, ist die grundsätzliche Struktur des Ornaments, aber auch die Anordnung der mit einigem Abstand zueinander angeordneten Palmettenblätter sehr ähnlich. Parallelen finden sich auch an der Sima des Daches B des Heratempels in Metapont aus der 1. Hälfte des 5. Jhs. v. Chr.[112], insbesondere in Bezug auf Form und Verlauf der Spiralen, der äußeren Lotos- und der, allerdings elf, Palmettenblätter. Nicht zuletzt kann auch die Simabemalung des frühklassisch datierten Gebäudes mit Peristylhof auf Delos zum Vergleich herangezogen werden[113]. Lotosblüten, Palmetten und Spiralen unterscheiden sich kaum von den oben untersuchten und auch das Verhältnis der Ornamenthöhe zum Achsabstand stimmt nahezu überein.
54All diese Anthemienfriese sind charakterisiert durch eine relativ dichte Reihung von Palmetten und Lotosblüten, eng eingedrehte Voluten und nach unten gekrümmte, rund endende Palmettenblätter und zeigen damit, auch wenn die Erbauungszeit der zugehörigen Tempel in fast allen Fällen bereits der Phase des Strengen Stils zuzuordnen ist, Spezifika spätarchaischer Ornamentik[114].
Dachhaut
55Bislang liegen keine Erkenntnisse über die genaue Gestalt der Dachkonstruktion des Tempels vor, darüber hinaus ist auch nicht bekannt, ob der Innenraum mit einer horizontalen Decke ausgestattet war[115]. Das Auflager für den Dachrand und die im korinthischen System verlegten Dachziegel wird in der Rekonstruktion deshalb lediglich schematisch dargestellt. An die Traufsima bzw. die Traufstrotere schlossen auf dem Gebälk auflagernde Normalstrotere an[116], die mit den jeweils eine Reihe darunterliegenden Flachziegeln verfalzt waren. Die Falze besaßen vermutlich eine reguläre Länge von 5 cm[117]. Die Dachhaut war auf der Unterseite vermutlich relativ eben[118]. Über den seitlichen Stoßfugen lagen Kalyptere, die sich ebenfalls einige Zentimeter überdeckten. Der Lage der Stopper auf den Unterseiten und den Witterungsspuren auf den Oberseiten der erhaltenen Kalypterfragmente nach zu urteilen, dürfte die Überlappung ca. 8 bis 9,5 cm betragen haben und damit größer gewesen sein als bei den Stroteren (Abb. 16).
56Es ist davon auszugehen, dass die seitlichen Zwischenräume zwischen den Normalstroteren knapp 1 cm breit waren. Nur dann käme ein 21,5 cm breiter Kalypter passgenau auf dem Streifen zum Liegen, der durch die Rille begrenzt wird, welche sich 10,3 cm vom erhöhten Rand entfernt auf der Oberseite des Stroters N. I. 66292 abzeichnet. Das Achsmaß der Flachziegel läge dann, die oben rekonstruierte Breite des Stroters von 57 cm vorausgesetzt, bei 58 cm.
57Die Breite der unteren Blöcke der Traufsima, die bisher nur vage angegeben werden konnte, lässt sich nun präzisieren: da sie mit dem Achsmaß der Ziegel identisch gewesen sein muss, lag sie bei 58 cm[119]. Diese Traufsimablöcke können also, geht man davon aus, dass sie einer Jochbindung unterlagen[120], nur einem Eckjoch zugeordnet werden. Für dieses sind nach aktuellem Kenntnisstand 2.89,8 m Breite zu veranschlagen[121], sodass darüber exakt fünf 58 cm breite Simablöcke passten. Das Normaljoch hingegen ist mit 2.99,5 m zu rekonstruieren[122] und damit für fünf 58 cm messende Simablöcke zu breit, für sechs aber wiederum deutlich zu schmal. Um hier eine Jochkonkordanz zu erreichen, wären fünf Simablöcke mit einer Länge von jeweils 59,9 cm erforderlich[123].
58Die Maße des einzigen vollständig erhaltenen Kalypters N. I. 66289 passen nicht zur Länge des erhaltenen Giebelsimablocks N. I. 66291 und damit auch nicht zur bislang rekonstruierten Länge der Strotere von 75,5 cm[124]. Es werden also auch Giebelsimablöcke und Flachziegel existiert haben, deren Gesamtlänge gute 10 cm kürzer war[125]. Unter der Annahme, dass es sich bei dem Giebelsimablock um ein Element mit Normgröße, bei dem Kalypter dagegen um eines mit Sonderlänge handelt, wurde bei der Rekonstruktion der Dachhaut eine Reihe kürzerer Strotere und Kalyptere direkt unterhalb der Firstziegel angeordnet. Bei einer geschätzten Gesamtlänge des Schräggeisons von knapp 9 m[126] lassen sich zusätzlich zur Reihe mit Sonderformat, dem Eckblock[127] und dem Mittelblock der Giebelsima zehn untere Giebelsimablöcke und ebenso viele Dachziegelreihen rekonstruieren. Auch wenn keine entsprechenden Fragmente gefunden wurden, ist davon auszugehen, dass die obersten Flachziegel in Form von Knickstroteren ausgebildet waren, die mit den Knickkalypteren den Abschluss der Dachfläche am First bildeten[128]. Wie üblich werden diese etwas kürzer gewesen sein als die Strotere der darunterliegenden Reihen[129]. Die Schenkellänge wurde mit ca. 30 cm, die Länge zwischen den Schenkeln folglich mit ca. 60 cm rekonstruiert. Die Knickkalyptere wurden, eine Überdeckung von jeweils ca. 8 cm vorausgesetzt, mit einer Schenkellänge von jeweils ca. 38 cm und damit einer Gesamtlänge zwischen den Schenkeln von 70 bis 75 cm veranschlagt.
59Während sich Form, Größe und Anordnung der Dachziegel also in weiten Teilen rekonstruieren lassen[130], kann dagegen nicht mit Gewissheit bestimmt werden, ob die Dachhaut des Tempels vollständig aus Marmor gefertigt war. Wie bereits erwähnt, gibt es keine eindeutigen Befunde für marmorne Normalstrotere und auch die überschaubare Anzahl der erhaltenen Kalyptere zieht nicht notwendigerweise eine Zuordnung zur inneren Dachfläche mit sich. Es muss also in Betracht gezogen werden, dass es sich auch bei diesem Dach um ein sog. Spardach[131] gehandelt hat, bei dem nur an Giebel, Traufe und First Marmorblöcke bzw. -platten versetzt wurden, für die Dachhaut selbst aber auf anderes Material – üblicherweise Terrakotta, im vorliegenden Fall vielleicht auch lokaler Kalkstein[132] – zurückgegriffen wurde.
Firstpalmetten
60Zum plastischen Schmuck des Tempels gehören die den Knickkalypteren entspringenden Palmetten, die den Dachfirst entsprechend der rekonstruierten Stroterbreite im Abstand von ca. 58 cm zierten. Sie waren, wie beschrieben, teils plastisch ausgearbeitet, teils aufgemalt.
61Da sich die Spuren der ursprünglichen Bemalung nur im Bereich der Zwischenblätter abzeichnen, ist davon auszugehen, dass diese mit einer gut haftenden Farbe gefasst waren, die großen Blätter dagegen mit einer schneller verwitternden Farbe[133]. Alternativ könnten aber auch nur die Zwischenspitzen aufgemalt und die Blätter selbst steinsichtig belassen worden sein. Die Anordnung der reliefierten bzw. bemalten Palmetten erfolgte möglicherweise in Abhängigkeit ihrer Sichtbarkeit, d.h. die weniger detailliert ausgearbeiteten, lediglich bemalten Palmetten könnten in der Mitte des Firstes, die plastischen dagegen in der Nähe der Giebel montiert worden sein.
62Hier soll auf die Ähnlichkeit zu den Palmettenfragmenten Kat. 34 und Kat. 35 des Tempels C II aus Metapont und wiederum mit diesen in Zusammenhang stehenden Stücken u. a. aus Unteritalien hingewiesen werden, die vergleichbar wulstige Hauptblätter und schmale Zwischenblätter besitzen und ins 5. Jh. v. Chr. datiert werden[134]. Deutliche Parallelen zeigen sich auch zu Fragmenten von Palmetten aus Terracotta, die den Demeter-Tempel in Agrigent schmückten[135]. Die Gemeinsamkeiten mit aus Selinunt stammenden Fragmenten tönerner Firstpalmetten aus dem ersten Viertel des 5. Jhs. v. Chr. wurden bereits an anderer Stelle aufgezeigt[136].
Akroterbaum
63Das pflanzliche Mittelakroter, das auf Basis des Fragments N. I. 66435 zu rekonstruieren ist, dürfte eine Giebelseite des Tempels bekrönt haben[137]. Eine Rekonstruktion des Akroters ist aufgrund des spärlichen Restes freilich unmöglich, sodass hier nur der Versuch einer Einordnung unternommen werden kann[138]. Mit einer Dicke von ca. 9 cm ist das Fragment vermutlich eher im unteren oder mittleren Bereich des Akroterbaums anzuordnen. Da der linke Rankentrieb oben etwas breiter ist als der rechte, ist außerdem davon auszugehen, dass das Stück von der rechten Seite des Baumes stammt, denn die äußeren Triebe von Akroterbäumen sind in der Regel schmaler als die nach innen bzw. oben wachsenden.
64Ähnliche Kompositionen von Ranken und Palmetten finden sich an zahlreichen Volutenbäumen, u. a. vom Heratempel in Kroton , aus Kyrene , Sounion und Aegina [139]. Was die Gestalt der Palmettenblätter betrifft, kann insbesondere das ältere Mittelakroter des Ostgiebels des Aphaiatempels als Vergleichsbeispiel herangezogen werden[140].
65Auch das Akroter des Tempels C II in Metapont, das seinerseits wiederum ganz klare Bezüge zu den aeginetischen Exemplaren aufweist, darf hier nicht unerwähnt bleiben[141].
Sphingen
66An den Giebelecken platzierte, vollplastische Sphingen komplettierten das Tempeldach[142]. Auch sie lassen sich nicht detailliert rekonstruieren und sollen deshalb hier nur kurz mit ähnlichen Eckakroteren in Verbindung gebracht werden.
67Der Breite der Federn von ca. jeweils 4 bis 5 cm und damit der Breite der Flügelspitzen von ca. 20 cm nach zu urteilen, dürften die Sphingen eine Gesamthöhe von etwa 1 m erreicht haben. Dies geht aus Vergleichen mit Exemplaren vom Aphaiatempel in Aegina und vom parischen Delion aus, die bei einer Gesamthöhe von ca. 75 cm Maße von ca. 10 bis 12 cm an den Flügelspitzen aufweisen[143].
Akroter- / Giebelfiguren
68Wie bereits oben angesprochen, lassen sich nach derzeitigem Kenntnisstand weder das Mittelakroter flankierende Figuren noch der mutmaßlich vorhandene Giebelschmuck näher fassen.
Resümee
70Es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass das Dach komplett fertiggestellt war, denn alle Fundstücke sind fertig ausgearbeitet und sowohl an der Traufe wie auch am First verbaute Elemente weisen Verwitterungsspuren auf. Der Grad der Verwitterung – die meisten Bauteile sind in relativ gutem Zustand, viele Oberflächen haben sich hervorragend erhalten und die Korrosionsspuren zeichnen sich nur schwach ab[145] – lässt allerdings darauf schließen, dass das Dach unter Umständen Wind und Wetter nicht allzu lange ausgesetzt war[146]. Bei der Zerstörung Selinunts durch die Karthager im Jahr 409 v. Chr. wurde wohl auch der Tempel A stark in Mitleidenschaft gezogen[147], sodass dieser Zeitpunkt als terminus ante quem für die Nutzungsdauer des Dachs herangezogen werden könnte. Möglicherweise diente es aber auch dem anschließend im Tempel eingerichteten punischen Heiligtum[148] noch als oberer Abschluss[149]. Spätestens nach einem starken Erdbeben, das sich zwischen dem 4. und 3. Jh. v. Chr. ereignete[150], wird das Dach herabgestürzt sein[151].
71Der Tempel A in Selinunt gehört zu einer Gruppe spätarchaischer und klassischer Monumente in Sizilien und Unteritalien, die nachweislich mit einem marmornen Dach bzw. Dachrand ausgestattet waren. Im Einzelnen sind dies der Athenatempel sowie zwei weitere Bauten in Syrakus , der Juno-Lacinia-Tempel und ein bislang nicht identifizierbarer Bau in Agrigent, der Tempel C in Gela , der Athenatempel in Kamarina , mindestens ein bislang nicht identifiziertes Monument in Selinunt[152], der Heratempel in Kroton, der Tempel C II in Metapont, der Athenatempel in Lokri, der Poseidontempel in Paestum sowie Bauten in Megara Hyblaea , Caulonia , Nocera und Segesta [153].
72Zweifellos zählten diese Monumente nicht zuletzt wegen des kostbaren, im Dach verbauten Materials zu den damaligen Prestigebauten. Insbesondere parischer Marmor galt seit spätarchaischer Zeit als eines der edelsten Gesteine für die Fertigung hochwertiger Skulpturen sowie ausgewählter, prominent platzierter Bauteile und erfreute sich, trotz des hohen finanziellen und logistischen Aufwandes, den seine Verwendung erforderte, auch im griechischen Westen ab Ende des 6. Jhs. v. Chr. zunehmender Beliebtheit[154].
73Die Gründe für den deutlichen Anstieg an Marmorimporten und den Einsatz des Materials beim Bau vieler der im 5. Jh. v. Chr. in Sizilien und Unteritalien errichteten großen Tempel, darunter auch der Tempel A, sind vielschichtig und sollen hier abschließend nur kurz umrissen werden.
74In konzeptueller Hinsicht lässt sich feststellen, dass die Entwürfe für die zahlreichen neuen Großbauten, die nach dem Sieg der Griechen über die Karthager bei der Schlacht von Himera im Jahr 480 v. Chr. errichtet wurden, vermehrt von strukturellen Modellen und Formen aus dem Mutterland geprägt waren – auch wenn diese mitunter an die eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen angepasst wurden[155]. Ein klarer Bezug zu attischen bzw. kykladischen Entwurfs- und Bautraditionen ließ sich auch bei vielen der soeben aufgelisteten Neubauten herstellen[156].
75Und auch beim hochwertigen Dach des Tempels A von Selinunt können, wie oben dargelegt, formale und technische bzw. konstruktive Ähnlichkeiten sowohl zu gerade genannten westgriechischen Bauten als auch zu Fragmenten mutterländischer Marmordächer konstatiert werden, die einen Einfluss griechischen Ideenguts und Knowhows bei der Konzeption und Ausführung des Daches nahelegen[157]. Es zeigt sich also, dass die besondere Nähe des Tempels A zur Architektur Attikas, die bereits durch die in den 1980er Jahren durchgeführte Untersuchung von Stufenbau, Kapitellen und Gebälk nachgewiesen wurde[158], ohne Zweifel für den gesamten Bau proklamiert werden kann.
76Dass die Adaption griechischer Entwurfskonzepte und Dekorationsformen mit der Verwendung des im Mutterland gebräuchlichen Baumaterials Marmor einherging, ist dabei nur konsequent.
77Durch die Verwendung einiger bestimmter Marmorsorten, die sich durch eine hohe Transluzenz auszeichnen[159], ließen sich außerdem lichtdurchlässige Dachflächen realisieren, mit denen wiederum eindrucksvolle Raumwirkungen erzielt werden konnten[160]. Für die Umsetzung aufwändiger Lichtkonzepte wurde das Material, insbesondere im Sakralbau, praktisch unabdingbar.
78Ob dieser Aspekt bei der Planung des Tempels A eine Rolle spielte und auch durch dessen Dachhaut Licht ins Innere fallen konnte, ist unklar, denn dazu müssten einerseits Details der Dachkonstruktion bekannt sein[161] und andererseits die bereits oben angesprochene Frage geklärt werden, ob die Dachhaut komplett oder zumindest partiell aus Marmorziegeln bestand. In letzterem Fall hätte zumindest die Möglichkeit bestanden, durch den punktuellen Einsatz transluzenter Ziegel eine Art Spotlight auf bestimmte, möglicherweise besonders für den Kult relevante Teile des Innenraums zu werfen, sofern der Lichteinfall nicht durch entsprechende Öffnungen in den Wänden des Tempels gesteuert wurde.
79Neben der raumkonzeptionellen Relevanz ist auch der starke symbolische Charakter des Materials hervorzuheben. Einerseits ließ sich damit ganz plakativ eine enge Beziehung zu Griechenland zeigen. So überrascht es kaum, dass beispielsweise der Athenatempel in Syrakus, eines der nach der gewonnenen Schlacht bei Himera errichteten Siegesdenkmäler, der erste sizilische Tempel war, für dessen Dach Bauteile aus parischem Marmor angefertigt wurden. Gewiss schwang bei Planung und Materialwahl auch die Idee mit, eine tiefe Verbundenheit mit dem Mutterland deutlich zu machen. Andererseits dürfte in jener Phase der prosperierenden und untereinander konkurrierenden Städte der Aspekt, mit der Verwendung des exklusiven Materials höchste repräsentative Ansprüche umsetzen zu können, ebenfalls eine zentrale Rolle gespielt haben. So ließen sich Reichtum, Macht und damit einhergehend gewissermaßen auch die Ebenbürtigkeit zu den Mutterstädten im griechischen Westen oder in Griechenland selbst demonstrieren[162].
80Auch in Selinunt war man sich, als im Aufstieg befindliche Stadt, sicherlich des Symbolcharakters bewusst und zeigte mit der Verwendung von Marmor bewusst den Willen zur Repräsentation.
81Zudem muss berücksichtigt werden, dass der Handel für die Marmor-Exporteure, insbesondere für Paros , ein hochprofitables Geschäft darstellte[163]. Der im 5. Jh. v. Chr. in vielen Städten – darunter auch in Selinunt[164] – zu verzeichnende Bauboom dürfte nicht nur ein Motor für die Interaktion zwischen den Städten, sondern auch für die Entwicklung und den Ausbau der Vertriebsnetzwerke und die Erschließung immer neuer Absatzmärkte einzelner Händler gewesen sein[165].
82Materialwahl, Konzept, Repräsentationsgedanke und wirtschaftliche Determinanten standen in enger Beziehung und bedingten sich, abhängig vom jeweiligen Bauvorhaben vermutlich unterschiedlich priorisiert. Sie beeinflussten aber nicht nur einander, sondern führten letztendlich auch zur Einbindung spezialisierter Kräfte, die mit Ideen und Material umzugehen wussten.
83Als Konsequenz der starken Nachfrage nach Marmor musste also auch dessen Verarbeitung organisiert werden. In Sizilien dürften zunächst jedoch kaum Fachleute für diese Arbeit zu finden gewesen sein, denn durch den Mangel an entsprechenden Steinbrüchen gab es auf der Insel keine eigene Tradition in der Verarbeitung des Materials.
85Ob griechische Spezialisten in der Folge dauerhaft vor Ort arbeiteten, nur für einzelne Bauprojekte engagiert wurden und auch Leute vor Ort anlernten, die ihre Kenntnisse und Fähigkeiten wiederum in einem lokalen bzw. regionalen Umfeld weitergeben konnten, lässt sich ebenfalls weder für Sizilien noch konkret für Selinunt pauschal beantworten[168].
86Ein Blick auf andere griechische Baustellen[169] zeigt eine gewisse Bandbreite an Möglichkeiten: So ist grundsätzlich eine Mobilität der Bauschaffenden – und vor allem spezialisierter Werkleute und Planer – feststellbar[170]. Die Gruppe der ausführenden Kräfte auf den Baustellen setzte sich oft aus lokalen Arbeitern und spezialisierten, teils von außerhalb angeworbenen Kräften zusammen. Qualifikation und Expertise waren letztlich ausschlaggebend für die Berufung zum Projektbeteiligten[171].
87Neben temporär kooperierender oder zumindest zeitgleich arbeitender Werkleute traten auf den Baustellen aber auch autonome Auftragnehmer auf, die ihre Tätigkeiten auf der Baustelle unabhängig voneinander verrichteten[172] und je nach Bedarf rekrutiert werden konnten.
88Der Stil der Ausführung bis hin zur Steinbearbeitung lässt sich vor diesem Hintergrund nicht auf die Traditionen generationenüberdauernder Werkstätten[173] zurückführen, sondern dürfte von der beruflichen Sozialisation der einzelnen beteiligten Handwerker abhängig gewesen sein. Die für die Auswahl zuständigen Kommissionen werden diese vermutlich berücksichtigt haben.
89Auffällig am Tempel A in Selinunt ist jedenfalls die Diskrepanz zwischen den eher altertümlich anmutenden Simaornamenten bzw. Firstpalmetten und dem innovativen Charakter vieler anderer baulicher Details des Tempels, mit dem „Selinunt an die modernsten Tendenzen der zeitgenössischen griechischen Baukunst an[schloss]“[174].
90Ob dieser Widerspruch darauf zurückzuführen ist, dass auch in Selinunt Konzeption, Gestaltung und Ausführung des Tempels in der Hand von Planern und Handwerkern mit ganz unterschiedlichen Hintergründen – extern und lokal, spezialisiert und neu angelernt – lag, lässt sich hier jedoch nicht eindeutig klären[175].
91Ebenso schwer zu beurteilen ist derzeit, wie das Dach generell, im Kontext der anderen, mit Marmordächern ausgestatteten Bauten im westgriechischen Raum einzuschätzen ist, da der Forschungsstand zu den teils spärlichen Fragmenten der jeweiligen Dächer[176] bisher keinen vollständigen Überblick über die Bautechnik, die Formen und den Dekor erlaubt oder gar eine Entwicklung nachvollziehbar macht.
92Der vorliegende Beitrag kann also nur als weiterer Baustein für eine solche Zusammenschau verstanden werden, die es ermöglichen wird, sowohl die Marmordächer des griechischen Westens miteinander in Beziehung zu setzen, als auch ihre Verbreitung und die Präsenz auf die Verarbeitung kykladischen Marmors spezialisierter Werkleute – seien es griechische Handwerker und Bauschaffende auf Montage oder auf Sizilien ausgebildete Spezialisten – auf eine mögliche Verbindung hin zu untersuchen.
Liste der in Palermo ausgestellten bzw. magazinierten Fragmente
93
Danksagung
94Für die Übertragung der Aufgabe und die kontinuierliche Unterstützung im weiteren Verlauf des Projekts sei D. Mertens herzlich gedankt. Außerdem gilt F. Spatafora und S. Ruvituso für die Genehmigung der Dokumentation und den freundlichen Empfang im Museum, A. Ohnesorg und H. Bücherl für die tatkräftige Mithilfe bei der Dokumentation der Fragmente sowie letzteren beiden und S. Prignitz für den Austausch und die fachkundige Beratung bei allen während der Ausarbeitung aufgekommenen Fragen großer Dank.
Abstracts
Abstract
The Marble Roof of Temple A in Selinunte
The high architectural quality of Temple A, built around the middle of the 5th century BC on the southern acropolis of Selinunte, is also made evident by its marble roof of which numerous fragments are still preserved. These finds, largely kept in the Museo Archeologico Regionale Antonino Salinas in Palermo, include blocks of the sima embellished with lion-head waterspouts, pieces of flat and cover tiles, as well as fragments of the figural decoration for the building. Based on a detailed documentation of the material, Gabrici's results could be corroborated more exactly in places, so that the roof can now be visualized almost completely. This reconstruction contributes to the research into construction details and the conceptual background of the roof and its related temple, and also facilitates a better understanding of the emergence and development of marble roofs in the Greek West and their relationship to designs, constructions and also craftsmen from the Greek mainland.
Keywords
Selinunte, Architecture, Greek Temples, Marble Roof, Reconstruction

Fragmente
Sima
Sima unten (Giebel)
Sima unten (Traufe)
Löwenköpfe
Sima oben
Ziegel
Flachziegel
Deckziegel
Knickkalyptere mit Palmetten
Akroterbaum
Sphingen
Akroter- / Giebelfiguren
Kyma
Rekonstruktion
Sima
Ornamente
Farbe
Einordnung
Dachhaut
Firstpalmetten
Akroterbaum
Sphingen
Akroter- / Giebelfiguren
Resümee
Liste der in Palermo ausgestellten bzw. magazinierten Fragmente
Danksagung
Abstracts