Unsichtbar präsent. Der Monumentalaltar des Hermokreon in Parion und seine Inszenierung als wiederverwertetes Heiligtum
1Die Hafenstadt Parion an der südlichen Propontisküste (Abb. 1) konnte mit einem Monumentalaltar als zentraler Attraktion aufwarten[1]. Wie der augusteische Geograph Strabon berichtet, »soll der dortige Altar sehenswert sein, da er Seitenlängen von einem Stadion besitzt«[2]. Den Bau als Sehenswürdigkeit zu bezeichnen, dürfte nach antiken Maßstäben noch untertrieben gewesen sein. Gelegentlich wurde er zu den sieben Weltwundern gerechnet[3] und war der Überlieferung zufolge geradezu sprichwörtlich, wenn es darum ging, auf eine aufwändige Ausstattung hinzuweisen[4]. Dem hohen Bekanntheitsgrad während der Antike steht heute eine ernüchternde Befundlage gegenüber: Bislang sind bei den Ausgrabungen im Gebiet des antiken Parion keine Architekturreste zutage getreten, die sich eindeutig mit dem Bauwerk in Verbindung bringen ließen[5]. Wohl auch deshalb fristet der Altar bisher ein Dasein als forschungsgeschichtliche Randnotiz[6].
2Vor dem geschilderten Hintergrund haben die folgenden Ausführungen ein doppeltes Ziel: Zuvorderst sollen sie die verfügbaren Anhaltspunkte zur baulichen Gestalt, Datierung und kultischen Bedeutung des Altars bündeln. In einem zweiten Schritt gilt es, eine bislang kaum beachtete Bemerkung Strabons in den Blick zu nehmen, wonach die Errichtung des Altars mit einer vollständigen Wiederverwertung des aufgelassenen Orakelheiligtums von Adrasteia einhergegangen sei. Eine Analyse und Einordnung dieser Überlieferung soll erschließen, welche Rolle der Altar für die Konstruktion und Wahrnehmung der umliegenden kleinasiatischen Sakraltopographie spielte.
Der sehenswerte Altar von Parion: Konturen eines Monumentalaltars
3Angesichts des Fehlens archäologischer Befunde und der typologischen Breite antiker Altäre lässt sich über die bauliche Gestalt und Dekoration des Altars im Detail nur spekulieren[7]. Mit der von Strabon überlieferten Seitenlänge von einem Stadion reiht er sich aber zweifellos in die Architekturgattung der antiken Monumentalaltäre ein. Unter deren archäologisch fassbaren Vertretern ragt der Altar Hierons II. in Syrakus aus dem 3. Jh. v. Chr. heraus, der mit rund 199 m in der Tat die symbolträchtige Länge von einem Stadion erreicht[8]. Unklar ist, ob dieses Maß auch in Parion nur die Längserstreckung oder aber Länge und Tiefe bezeichnet, und ebenso, ob es sich auf den Altarkörper selbst oder auf ein diesen möglicherweise einfassendes Herkos bezieht[9]. Der mit den Abmessungen verfolgte repräsentative Anspruch steht dennoch außer Frage: So wie der sizilianische Bau die vorausgegangene westgriechische Entwicklung zu immer größeren Altarbauten nicht nur fortsetzte, sondern alle bekannten Dimensionen gleich um ein Vielfaches übertraf[10], sollte offenkundig auch jener in Parion jedes vorherige Maß sprengen. Dieses rangierte in Kleinasien von archaischer bis in hellenistische Zeit bei Seitenlängen von bis zu 40 Metern, wie die Altäre im Heraion von Samos und im Artemision von Ephesos sowie der Große Altar von Pergamon zeigen[11].
Datierung
4Die bisher vorgebrachten zeitlichen Eingrenzungsversuche kreisen um drei Möglichkeiten: Als Beleg für eine Errichtung in der zweiten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. wurden entsprechend datierte parianische Münzprägungen geltend gemacht, auf deren Rückseite in Dreiviertelansicht ein Altar mit Stufenbasis und stark akzentuierten Voluten erscheint (Abb. 2)[12]. Eine Datierung ins 3. Jh. v. Chr. erfolgte mit Verweis auf den Altar Hierons II. in Syrakus, unter der Annahme, eine ähnliche Größe deute auf ähnliche Entstehungszeit hin[13]. Ein hochhellenistisches Entstehungsdatum wurde aus der punktuell bezeugten Förderung Parions durch die Attaliden abgeleitet[14]. Letztlich muss das gesamte zeitliche Spektrum in den Blick genommen werden: Auf ein Entstehungsdatum ab dem 4. Jh. v. Chr. deutet zwar nicht allein die schiere Größe, aber die überlieferte aufwändige Ausstattung des Altars hin, die ihn in die Gruppe der sogenannten Prunkaltäre einordnen würde[15]. Ebenfalls als gesichert kann eine Existenz spätestens in der Mitte des 2. Jh. v. Chr. gelten: In diese Zeit datieren Tetradrachmen aus Parion, die auf der Rückseite Apollon Aktaios zeigen[16]. Dessen Kult kann erst im Zuge der Altarerrichtung nach Parion verlegt worden sein, wie aus der Seltenheit dieser Kultepiklese in Verbindung mit einer zweiten Erwähnung des Altars in Strabons Geographika ersichtlich wird[17].
Ein Kulttransfer und was Strabon davon berichtet
5Ausgehend von der Stadt Adrasteia, die sich am Rande der Schwemmebene des Granikos befand und zwischenzeitlich Teil der Chora von Parion geworden sein dürfte, notiert der Geograph[18]:
»Die Stadt liegt zwischen Priapos und Parion und besitzt eine unterhalb gelegene Ebene gleichen Namens, in der es auch ein Orakel des Apollon Aktaios und der Artemis kata tēn tykatēn [19] gab; doch wurden Ausstattung und Marmor vollständig nach Parion verbracht, als das Heiligtum abgerissen und in Parion ein Altar erbaut wurde, ein Werk des Hermokreon und höchst bemerkenswert durch seine Größe und Schönheit. Das Orakel aber erlosch, wie auch jenes in Zeleia«[20].
6Abgesehen von Strabons Ausführungen ist über den Kulttransfer weiter nichts überliefert. Ob mit dem Kult auch das Orakel umzog, bleibt fraglich, ebenso, ob neben Apollon auch Artemis in Parion verehrt wurde[21]. Auch lässt sich nicht präzisieren, unter welchen Voraussetzungen und auf wessen Initiative der Transfer stattfand[22].
7Bemerkenswert ist jedoch, wie Strabon ihn beschreibt: als Überführung konkreter Objekte. Als solche Objekte scheinen aber nicht – oder nicht nur – Kultbilder oder ein Altar an den rund 13 km Luftlinie entfernten Zielort jenseits eines ausgedehnten Hügellandes transportiert worden zu sein[23]. Stattdessen hebt Strabon hervor, dass die kataskeuē sowie die litheia des aufgegebenen Orakels vollständig nach Parion gebracht worden seien. Die beiden Begriffe stehen im Verwendungskontext offenbar in einem komplementären Verhältnis zueinander: Demgemäß dürfte Strabon mit kataskeuē den tendenziell reversiblen Bestand des Heiligtums meinen, also die Ausstattung oder das Inventar, mit litheia als vergleichsweise dauerhafte Komponente den zu dessen Errichtung verwendeten Marmor[24].
8Zur Frage, welche Art von Transfer Strabon vor Augen hat, erlauben seine knappen Angaben prinzipiell zwei Lesarten, deren zweite zum gegenwärtigen Kenntnisstand als wahrscheinlicher gelten muss.
Option 1: Ein ›Wanderheiligtum‹?
9Zumindest theoretisch in Betracht zu ziehen ist, dass Strabon und die von ihm rezipierte Überlieferung davon ausgingen, das Heiligtum oder zumindest der Tempel von Adrasteia seien in der Nähe des neu errichteten Monumentalaltars in Parion originalgetreu wiederaufgebaut und mit dem ursprünglichen Inventar ausgestattet worden[25]. Damit hätten die unbekannten Auftraggeber und der anderweitig nicht überlieferte Architekt Hermokreon nicht nur mit der Größe des Altars, sondern auch durch das Versetzen und Wiederaufbauen von Gebäuden neue Maßstäbe gesetzt. Gegen diese Annahme sprechen indes zwei Punkte: Zum einen scheinen sich nachträgliche Gebäudeversetzungen bis zum Hellenismus auf kleine Bauwerke und geringe Distanzen beschränkt zu haben. Das Abtragen und Wiederaufbauen großer Tempel ist erst in augusteischer Zeit zu fassen, mit dem aus dem attischen Umland auf die Athener Agora versetzten Arestempel als einem prominenten Vertreter solcher ›Wandertempel‹[26]. Zu jedem voraugusteischen Zeitpunkt wäre das Translozieren eines Tempels oder gar eines kompletten Heiligtums nicht nur eine graduelle Steigerung gewesen, sondern eine gänzlich neue Kategorie der aktiven Gestaltung einer Sakrallandschaft. Zum anderen fällt auf, dass Tempelwanderungen über größere Distanzen in der schriftlichen Überlieferung grundsätzlich keine Rolle spielen. So erwähnt Pausanias in seiner Periegesis zwar den Athener Arestempel, weiß von dessen vorausgegangener Versetzung aber offenkundig nicht, obwohl sein großes Interesse für zeitliche Tiefenschichten und ortsübergreifende Kontinuitäten außer Frage steht[27]. Demnach scheint die Verpflanzung antiker Kultgebäude in erster Linie ein Instrument zur zielgerichteten architektonischen Ausgestaltung sakraler Räume gewesen zu sein[28]. Der Gebrauch dieses Instruments selbst hinterließ jedoch keinen bleibenden Eindruck. Damit bleibt fraglich, ob Tempel- oder Heiligtumswanderungen, zumal zum definitiv voraugusteischen Errichtungszeitpunkt des Altars in Parion, als relevantes Phänomen registriert oder gar inszeniert wurden.
Option 2: Umfassendes Materialrecycling
10Da Strabon nur von Steinmaterial und Ausstattung, nicht aber von den daraus bestehenden Gebäuden oder deren Wiederaufbau spricht, handelte die Überlieferung womöglich gar nicht von einer Gebäudeversetzung. Stattdessen könnte lediglich von einem Materialtransfer zum Zweck der Errichtung des Monumentalaltars die Rede gewesen sein[29]. Dies entspräche der geläufigen antiken Praxis, aufgegebene Gebäude zu demolieren und so als Baustoffquelle zu erschließen. Bei einem Monumentalgebäude dürfte sich diese Praxis in gesteigertem Maße empfohlen haben[30]. Zudem stünde sie im Einklang mit der allenthalben feststellbaren Tendenz, göttliches Eigentum innerhalb von Heiligtumsgrenzen aufzubewahren, wo es zu zunehmend verdichteter Aufstellung und teilweise zu Deponierung von Votiven kam. In Parion wird das dorthin überführte Material hauptsächlich im Fundament und im Inneren des Altars verschwunden sein: Denn bei nur wenigen der sichtbaren Bauteile, die in einem durchschnittlichen Heiligtum zu erwarten sind, scheint eine form- und funktionsgleiche Wiederverwendung an einem Monumentalaltar denkbar. Auch für eine offensichtlich fremdkörperartige Integration in die Wandflächen des hermokreontischen Baus fehlt jeder Anhaltspunkt[31].
Orts- und formübergreifende Materialkontinuität als Kriterium
11Obgleich das Transferieren und wahrscheinlich unsichtbare Weiterverwenden von kataskeuē und litheia vergleichsweise konventionellen Logiken von Materialrecycling und göttlicher Besitzstandswahrung folgte, wurde es im Fall von Adrasteia und Parion doch als eigenständige Episode registriert und über längere Zeit hinweg memoriert, wie Strabons Hinweis ohne Zweifel belegt. Ursache dieses längerfristigen Fortbestands der Überlieferung dürfte gewesen sein, dass sie unter mehreren Gesichtspunkten Interesse wecken und Interessen bedienen konnte: Erstens unterlag die Raumordnung vieler antiker Heiligtümer einer subtil regulierten Abfolge von teils ermöglichten, teils versperrten Sicht-, Zugangs- und Interaktionsmöglichkeiten[32]. In Parion könnte die Vorstellung, der monumentale Altar berge in seinem Inneren die Reste eines altehrwürdigen Heiligtums, als Beitrag zu einer solchen Inszenierung des Sakralen zwischen Präsenz und Abschirmung gerne registriert und wiederholt worden sein. Zweitens arbeitet die Anekdote vom in einen Monumentalaltar verwandelten Heiligtum mit dem Motiv der Metamorphose. Eine Faszination an der Formveränderung findet sich nicht nur in den vielen mythischen Verwandlungen von Menschen und Göttern, von denen etwa Homer, Ovid und Apuleius berichten. Sie kommt auch in Berichten von der Überformung unbelebter Dinge wie Gestein oder Landschaften wirkungsvoll zum Einsatz[33]. Drittens erlaubte die Annahme einer vollständigen Transformation, einen früheren Zustand auch dann zu imaginieren, wenn dieser nicht unmittelbar evident war. So ist davon auszugehen, dass die Parianer die Überlieferung aktiv nutzten, um sich mithilfe ein und desselben Altars sowohl eines progressiven Monumentalbaus als auch eines altehrwürdigen und regional verwurzelten Kultes zu rühmen[34]. Wenn Strabon den Transfer nicht anhand des Zielorts Parion, sondern des Ausgangspunktes Adrasteia erwähnt, macht dies darauf aufmerksam, dass das Narrativ vom abtransportierten Heiligtum in spezifischer Tönung auch unter Anwohnern im Umkreis der Heiligtumsruine kursiert haben dürfte: etwa mit der Funktion, aus der Peripherie eine Brücke zum berühmten Monument in der Hafenstadt zu schlagen, sich in ein ortsübergreifendes Netz von Kultbezügen einzuschreiben oder schlicht sich der eigenen Vergangenheit zu vergewissern[35]. Alle drei genannten Aspekte (Vergegenwärtigung von Unsichtbarem, umfassende Metamorphose, Altes im Neuen) beruhen auf der Vorstellung eines materiellen Kontinuums über Orts- und Formwechsel hinweg. Sie stellen Mechanismen dar, die sowohl den Monumentalaltar in Parion als auch die Spuren des Heiligtums in Adrasteia in die Lage versetzten, auf den jeweils anderen Ort zu verweisen[36]. So wirft die Überlieferung, beim Monumentalaltar des Hermokreon handle es sich um ein wiederverwertetes Heiligtum, ein aufschlussreiches Schlaglicht auf eine antike Sakrallandschaft und die synchronen und diachronen Sinnbezüge, die in ihr wirksam und erfahrbar wurden.
Abstracts
Zusammenfassung
Unsichtbar präsent. Der Monumentalaltar des Hermokreon in Parion und seine Inszenierung als wiederverwertetes Heiligtum
Der Artikel diskutiert die verfügbaren Anhaltspunkte zur baulichen Gestalt, Datierung und kultischen Bedeutung des literarisch bezeugten Monumentalaltars des Hermokreon in Parion. Er nimmt eine bislang kaum beachtete Passage in Strabons Geographika in den Blick, wonach die Errichtung des Altars mit einem vollständigen Transfer von Baumaterial und Ausstattung aus dem aufgelassenen Orakel von Adrasteia einhergegangen sei. Anhand dieser Überlieferung wird untersucht, wie die Verwertung eines Heiligtums, in erster Linie konventionelles Mittel zu Baustoffrecycling unter gleichzeitiger Wahrung göttlichen Eigentums, auf breiterer Basis rezipiert und memoriert werden konnte und so zur Konstruktion hellenistischer und frühkaiserzeitlicher Sakraltopographien beitrug.
Schlagwörter
Parion, Monumentalaltäre, Kult, Baumaterial, Wiederverwendung
Abstract
Invisibly Present: The Monumental Altar of Hermokreon in Parion and Its Staging as a Recycled Sanctuary
The article discusses the available evidence on the architectural form, dating and cultic significance of the literarily attested monumental altar of Hermocreon in Parion. It focuses on a little studied passage in Straboʼs Geographika who states that the construction of the altar was accompanied by a complete transfer of building material and furnishings from the abandoned oracle of Adrasteia. On the basis of this tradition, the article explores how the reuse of a sanctuary – essentially a conventional means of recycling building materials while at the same time preserving divine property – may have been perceived and commemorated more broadly and how it thus contributed to the shaping of Hellenistic and Early Imperial sacred landscapes.
Keywords
Parion, monumental, altars, cult, building material, reuse
Özet
Parion´daki Görünmez Mevcudiyet. Kutsal Alanın, Hermokreon Anıtsal Sunağı´na Dönüşümü
Bu çalışmada, Hermokreon´un, antik kaynaklarda da geçen Parion´daki anıtsal sunağının dinsel bakımdan önemi, mimarisi ve tarihlendirilmesiyle ilgili mevcut bulgular değerlendirilmektedir; aynı zamanda Strabon´un Geographika adlı eserinde bugüne dek gözden kaçan bir pasaj da ele alınmaktadır. Bu pasajda aktarılanlara göre sunağın inşası, terkedilen Adrasteia bilicilik merkezine ait mimari malzeme ve eşyaların tümünün taşınmasıyla birlikte başlamıştır. Buna göre, kutsal mülkiyetin korunarak yapı malzemesinin geri dönüşümüne yönelik geleneksel yollar başta olmak üzere bir kutsal alandan yararlanmanın çoğunluk tarafından nasıl kabul gördüğü ve aynı zamanda belleğe alındığı; bu uygulama ile Hellenistik Dönem ve Erken İmparatorluk Dönemi kutsal topografyasının inşasına katkıları irdelenmektedir.
Anahtar sözcükler
Parion, anıtsal sunaklar, kült, yapı malzemesi, geri dönüşüm

Der sehenswerte Altar von Parion: Konturen eines Monumentalaltars
Datierung
Ein Kulttransfer und was Strabon davon berichtet
Option 1: Ein ›Wanderheiligtum‹?
Option 2: Umfassendes Materialrecycling
Orts- und formübergreifende Materialkontinuität als Kriterium
Abstracts