Typesetting
2023-1
Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik
Lykien, Türkei
Lykische Familien in hellenistischer und römischer Zeit. Eine regionale Untersuchung der Inschriften
Die Arbeiten bis zum Jahr 2022
1Die Wurzeln der Lykier, einer der ältesten Populationen Kleinasiens, reichen bis zu den Luwiern der Spätbronzezeit. Die einheimische lykische Kultur wurde stark von der griechischen Kultur beeinflusst, aber Elemente der indigenen lykischen Kultur blieben bis zum Ende des Altertums erhalten. Auch als Teil des Römischen Reiches und unter römischer Provinzverwaltung haben die Lykier ihre eigene Identität bewahrt, die sich in ihren religiösen Vorstellungen, ihren Bestattungspraktiken, ihrer Onomastik usw. widerspiegelt. Daher können kulturelle Aspekte der lykischen Gesellschaft in der hellenistischen und römischen Zeit nicht ausschließlich auf der Grundlage dessen verstanden werden, was wir vom antiken Griechenland und Rom wissen – vielmehr haben wir von einem regionalen Ansatz auszugehen. Ebenso ist ein solcher Ansatz von entscheidender Bedeutung, wenn es um eine Beurteilung der Frage geht, inwieweit die lokale lykische Kultur in ihren rechtlichen Institutionen ab der hellenistischen Zeit beibehalten wurde.
2Ausgehend von dieser Prämisse untersucht die Dissertation die sozialen und rechtlichen Aspekte der lykischen Familienkultur in hellenistischer und römischer Zeit und bietet eine deskriptive Analyse dreier Hauptbereiche des Familienlebens: Ehe, Kinder und Erbrecht. Es werden die wichtigsten sozialen Praktiken und deren Beziehung zu den bekannten rechtlichen Rahmenbedingungen für diese drei Themenbereiche dargelegt.
3Auch wenn uns literarische Quellen oder explizite Rechtsquellen, die diese Fragen direkt beantworten könnten, nicht erhalten sind, liefern uns die Inschriften Lykiens wertvolle Informationen über zahlreiche Familien und deren soziale und rechtliche Angelegenheiten. Insbesondere die lykischen Grabinschriften, in denen die Personen aufgeführt sind, die innerhalb eines Grabes Bestattungsrechte hatten, spielen hier eine wichtige Rolle. Lykische Gräber waren in der Regel Familiengräber, und ihre Inschriften erwähnen häufig viele verschiedene Familienmitglieder (Abb. 1). Sie verwenden daher eine breite Palette von verwandtschaftlichen Begriffen sowie Rechtsbegriffe aus dem Familien- und Erbrecht. Gedenkinschriften, d. h. Texte, in denen das Gedenken an eine Person durch Familienmitglieder festgehalten wird, sind in der Regel nicht so reichhaltig wie Grabinschriften, was die darin genannten familiären Verbindungen angeht, können aber dennoch in dieser Hinsicht nützlich sein (die zwei Gattungen von Grabinschriften, die die Hauptbeleggrundlage für die Studie darstellen, werden in der Einleitung ausführlich vorgestellt). Private Ehrendenkmäler, die von Familienmitgliedern errichtet wurden, um Verwandte öffentlich zu ehren (viele von ihnen posthum errichtet), umfassen in der Regel eine Reihe von Familienmitgliedern und bieten somit wertvolle genealogische Informationen, auch wenn sie bei weitem nicht so zahlreich sind wie Grabinschriften. Eine genaue Untersuchung dieses Materials, insbesondere eine gründliche Analyse der einschlägigen Begriffe und Ausdrücke sowie der Konstruktion der jeweiligen persönlichen Identität in den epigraphischen Aufzeichnungen, ermöglicht einen klareren Blick auf die vielen verschiedenen Dimensionen der lykischen Familienkultur.
4Insgesamt umfasst die Studie vier Hauptkapitel. Kapitel I gibt einen detaillierten Überblick über die wichtigsten griechischen Verwandtschaftsbezeichnungen in der lykischen Epigraphik in hellenistischer and römischer Zeit (einschließlich des gräko-lykischen Verwandtschaftsbegriffs πιατρα) und zeigt, dass einige der in Lykien gefundenen Begriffe manchmal eine andere Bedeutung haben als die in der klassischen Zeit verwendeten. Außerdem werden die gemeinsam in einem Grab bestatteten Familienmitglieder und die in Grab- und Gedenkinschriften erwähnten verstorbenen Personen erörtert sowie kurz die Möglichkeiten und Grenzen bei der Auswertung dieser Dokumente als Quellen für die lykische Demographie, Haushaltsstruktur und Familienbeziehungen untersucht.
5Kapitel II konzentriert sich auf die lykische Ehekultur und untersucht das Konzept der Legitimität der Ehe, die Heiratspraktiken der Lykier in Form von Endogamie und Exogamie, die Auflösung von Ehen und das Auftreten von Patchwork-Familien als Folge von Wiederverheiratungen. Schließlich wird untersucht, wie sich der Erwerb des römischen Bürgerrechts durch manche Lykier auf die Heiratspraktiken ausgewirkt haben könnte.
6Kapitel III befasst sich mit Praktiken in Bezug auf Kinder. Dabei werden Kinder mit unterschiedlichem rechtlichem und sozialem Status untersucht: biologische legitime und illegitime Kinder, adoptierte Kinder (römische Adoptionen werden gesondert untersucht) sowie Pflege- und Sklavenkinder, die im Haushalt aufgezogen wurden. Dabei werden nicht nur die Terminologie und die rechtlichen Bezeichnungen, die zur Unterscheidung dieser verschiedenen Kategorien verwendet wurden, detailliert analysiert, sondern auch der sozioökonomische Hintergrund dieser Kinder und ihrer Familien. Darüber hinaus wird in diesem Kapitel versucht, einige der rechtlichen Aspekte zu definieren, die der Adoptionspraxis zugrunde liegen, wie z. B. die Frage, wer zur Adoption berechtigt war oder welche Beweggründe es für eine Adoption gab.
7Schließlich wird in Kapitel IV untersucht, wie lykische Familien Eigentum von Generation zu Generation weitergaben, indem die Terminologie und Phraseologie im Zusammenhang mit dem Erbrecht dargelegt und anschließend die Erbschaftsgräber als Fallstudie für Überlegungen zur Funktionsweise von Erbschaft und Erbfolge erörtert werden. Dieses Kapitel befasst sich auch mit den Rechten, die Frauen in Bezug auf Eigentum und Erbschaft hatten.
8Aus dem Quellenmaterial gewinnt man den Eindruck, dass die Praktiken in Bezug auf Ehe, Familie und Erbrecht in ganz Lykien recht einheitlich waren, wozu Eheschließungen zwischen Bürgern verschiedener lykischer Poleis (ein beliebter Brauch der Lykier) sowie die Tatsache, dass die Bürger der lykischen Städte das Recht hatten, in auswärtigen Gemeinden Eigentum zu besitzen, wohl stark beigetragen haben. Endogame Ehen waren weit verbreitet und sind in vielen Städten Lykiens bezeugt. Die Geschwisterehe, die engste in der Region bezeugte Form der Endogamie, ist durch die Verwendung expliziter Formulierungen wie γυνὴ καὶ ἀδελφή (Ehefrau und Schwester) oder ἀδελφὸς καὶ ἀνήρ (Bruder und Ehemann) eindeutig dokumentiert. Das Konzept der legitimen Ehe im Gegensatz zur faktischen Ehe wird im lykischen epigraphischen Material durch Ausdrücke wie γυνὴ νόμιμα (gesetzliche Ehefrau; vielleicht auch γυνὴ γνησία oder γυνὴ γαμετή), γάμος νόμιμος (gesetzliche Ehe) usw. deutlich sichtbar. Man stellt jedoch auch fest, dass uneheliche Kinder die Staatsbürgerschaft allein durch ihre Mutter erwerben konnten. Darüber hinaus waren Frauen rechtlich berechtigt zu adoptieren, ein Phänomen, das für die griechischen und römischen Gesellschaften der Antike ungewöhnlich ist. Bezüglich der Frage, wie sich die römische Herrschaft und insbesondere das römische Recht auf die lykische Familienpraxis ausgewirkt haben – besonders weil Lykier, die das römische Bürgerrecht erlangten, dem römischen Familienrecht unterworfen wurden – zeigt die Studie vor allem, dass Lykier mit römischem Bürgerrecht es vorzogen, nur solche Personen zu heiraten, die selbst römische Bürger waren. Wenn sie einen peregrinus oder eine peregrina heirateten, galt die Ehe nicht als matrimonium iustum und führte zu Kindern mit nicht-römischem Status (Abb. 1). Außerdem ist zu beobachten, dass die Geschwisterehe, die nach römischem Recht als Inzest gilt und daher verboten war, von der lykischen Elite in der hohen Kaiserzeit nicht mehr praktiziert wurde. Die im hellenistischen und römischen Lykien geltenden Testament- und Erbgesetze bleiben uns leider unbekannt. Auf der anderen Seite erscheinen relevante juristische Ausdrücke oder Formulierungen, die uns aus dem griechischen Recht bekannt sind, auch in verschiedenen Gattungen lykischer Inschriften. Sie deuten auf die Existenz gleicher oder ähnlicher juristischer Konzepte in Lykien hin, auch wenn es in der Praxis möglicherweise Unterschiede gegeben hat.
Förderung
Suna – İnan Kıraç AKMED Forschungsstipendium; DAAD-Promotionsstipendium.
Leitung des Projektes
S. Kılıç Aslan.
Abstracts
Abstract
Lycia, Turkey. Lycian Families in the Hellenistic and Roman Periods. A Regional Study of Inscriptions
Selen Kılıç Aslan
The roots of the Lycians, one of the oldest populations in Asia Minor, reach back to the Luwians of the Late Bronze Age. Indigenous Lycian culture was strongly influenced by the Greek culture, but elements of the Anatolian tradition remained in the Lycians’ religious beliefs, burial practices and onomastics until Late Antiquity. Many aspects of Lycian society can therefore only be understood in a regional perspective. In the context of the dissertation (finished in 2020, to be published as part of the series Brill Studies in Greek and Roman Epigraphy in 2023s), three central elements of familial life in the Hellenistic and Roman periods were investigated: marriage, children and inheritance practices. Literary and legal sources are lacking, but numerous inscriptions, in particular funerary texts, provide valuable information.
Keywords
Epigraphik, Familien, Familiengräber, Hellenistische Zeit, Römische Kaiserzeit
Förderung
Leitung des Projektes
Abstracts
2023-1