Eurasien-Abteilung
Kal-e Chendar/Shami, Iran
Ein ungehobener Schatz hellenistischer Plastik aus der Elymais
Die Arbeiten des Jahres 2021
Einleitung
1Im Jahr 1936 berichtete der legendäre ungarisch-britische Forschungsreisende und Archäologe Sir Aurel Stein in der Times of London unter dem Titel »Traces of Alexander the Great« von einem außergewöhnlich umfangreichen Skulpturen-Fund im Südwesten des Iran [1]. Die Statuen haben zwar keinen direkten Bezug zu Alexander dem Großen, stammen aber aus der Epoche nach den makedonischen Eroberungen Persiens, also aus der hellenistischen (323–141 v. Chr.) und parthischen (141 v. Chr.–224 n. Chr.) Zeit.
2Die 13 meist großformatigen Skulpturen und -fragmente aus Bronze und Marmor befinden sich heute im Iranischen Nationalmuseum in Teheran und im British Museum in London. Sie sind in mehrfacher Hinsicht einzigartig. Denn erstens verfügen sie über einen recht gut dokumentierten Kontext: Die Statuen stammen aus einem Heiligtum, das im 2. Jahrhundert v. Chr. gegründet und bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. genutzt wurde und offenbar die bedeutendste Kultstätte der Elymais war, einer antiken Region auf dem Gebiet des alten Reiches Elam. Zweitens machen die Skulpturen einen beträchtlichen Anteil der östlich des Tigris erhaltenen Rundplastik des Hellenismus und der Partherzeit aus. Drittens umfasst der Komplex neben zwei Marmorköpfen außergewöhnlich viele Statuen und deren Fragmente aus Bronze, einem Material, das sich ohne großen Aufwand recyceln lässt und deshalb sonst im archäologischen Befund selten erhalten ist. Im Partherreich sind Bronzestatuen nahezu ausschließlich aus Kal-e Chendar überliefert, so dass Untersuchungen zur parther- bzw. arsakidenzeitlichen Bronzeplastik von diesem Fundkomplex ausgehen müssen. Und viertens gehören zu den Funden sowohl »hellenistische«, als auch »parthische« Statuen: Während sich die »hellenistischen« Statuen deutlich an griechischen Darstellungskonventionen orientieren oder Figuren der griechischen Mythologie zeigen, sind die »parthischen« Statuen »un-griechisch« dargestellt, nämlich langhaarig und in weite Hosen und Mäntel gehüllt. Zwar sind diese beiden Gruppen nicht a priori als zeitlich aufeinander folgend zu deuten, doch spricht einiges dafür, dass die Skulpturen aus dem gesamten Zeitraum von der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. bis in das 1./2. Jahrhundert n. Chr. datieren. Sie können also Aufschluss über die stilistische Entwicklung von der späten hellenistischen Epoche des Iran bis in die Arsakidenzeit geben – eine Entwicklung, die sich sonst an kaum einem anderen Fundkomplex des Nahen und Mittleren Ostens ablesen lässt.
Fundgeschichte der Skulpturen und Objektbiographie
3Die Skulpturen wurden 1935 und 1936 in Kal-e Chendar entdeckt, einer damals im Bau befindlichen kleinen Siedlung im Shami-Tal des Zagros-Gebirges (von dem auch die besser bekannte Bezeichnung des Fundortes als »Shami« abgeleitet ist) in der iranischen Provinz Khuzestan (Abb. 1). Beim Ausheben der Fundamente waren die Siedler auf mehrere Bruchstücke von Statuen gestoßen, darunter Kopf, Torso und Beine des berühmten »Partherfürsten«, einer fast 2 m hohen Bronzestatue eines Mannes in weiter Reitertracht (Abb. 5). Die spektakuläre Entdeckung sprach sich schnell herum, so dass bald darauf der Militärverwalter im 30 km entfernten Malamir (heute Izeh) sieben der Skulpturen und Fragmente beschlagnahmte, in seine Residenz verbringen ließ und alle weiteren Erdarbeiten am Fundort unterband. Ende 1936 wurden diese Funde vom Leiter des Iranischen Antikendienstes André Godard ins Iranische Nationalmuseum nach Teheran überführt.
4Doch vorher, im Januar 1936, war Sir Aurel Stein auf seiner »Fourth Expedition to Southwest Iran« durch Khuzestan gereist und auf die in Malamir verwahrten Skulpturen aufmerksam geworden. Er erkannte ihre Bedeutung und unternahm wenige Tage später eine kurze Ausgrabung am Fundort der Statuen in Kal-e Chendar. Bei diesen nur sechstägigen archäologischen Arbeiten legte er ein kleines Heiligtum frei, das von einer etwa 12 x 23 m langen Mauer umgeben und nicht überdacht war. Innerhalb der Umfassungsmauern entdeckte Stein einen zentralen Altar und mehrere Basen für Statuen und Statuetten [2]. Die einheimischen Entdecker der Skulpturen gaben Stein gegenüber an, sie hätten sie auf einer »Halde« außerhalb des Schreins gefunden. Doch ist nicht auszuschließen, dass sie die Statuen und Bruchstücke selbst aus dem weiteren Umkreis des Gebäudes zusammengetragen haben – möglicherweise um die wertvolle Bronze einzuschmelzen.
5Stein entdeckte bei seinen Nachgrabungen zahlreiche Kleinfunde und weitere Statuenfragmente. Diese und andere auf seiner Expedition gemachten Funde konnte er aufgrund einer Vereinbarung mit der Iranischen Antikenbehörde nach England verschiffen, um sie im British Museum in London zu untersuchen. Stein schlug diesen Funden auch einige von den Siedlern entdeckte Statuenfragmente zu, die der Militärgouverneur offenbar nicht konfisziert hatte und die in Kal-e Chendar verblieben waren, u. a. das Porträt eines »Hellenistischen Herrschers« (Abb. 2). Nach einer 1937 vorgenommenen Fundteilung kam dieses Porträt zurück in den Iran, ebenso wie acht weitere der nach London gebrachten Statuen-Fragmente. Die Stein zugesprochenen 35 Kleinfunde, darunter 14 Fragmente von Bronzefiguren, verblieben jedoch im Department of the Middle East des British Museum. Die Skulpturen und Fragmente aus Kal-e Chendar sind also auf zwei Kontinente und Museen verteilt, was dazu geführt hat, dass sie bislang niemals als Fundgruppe betrachtet wurden.
Iranisch-italienische Ausgrabungen in Kal-e Chendar
6Nach der Expedition von Stein geriet Kal-e Chendar aus dem Blick des archäologischen Interesses, doch 2012 nahm die »Iranian-Italian Joint Expedition in Khuzistan« die Grabungen wieder auf [3]. Diese ergaben, dass der von Stein entdeckte Schrein Teil einer wesentlich größeren Anlage war, die aus mindestens fünf großen Terrassen bestand, auf denen teils monumentale Bauten standen, von denen sich allerdings wenig erhalten hat.
7In unmittelbarer Umgebung der Terrassen wurde eine ausgedehnte Nekropole entdeckt, deren aufwändig gestaltete Kammergräber und umfängliche, teils aus Gold bestehende Grabbeigaben zeigen, dass hier Mitglieder einer äußerst wohlhabenden Oberschicht bestattet waren. Dabei datiert die Keramik aus den Gräbern ebenso wie die Keramik von den Terrassen ins 2. Jahrhundert v. Chr. bis 2. Jahrhundert n. Chr. Vorläufig deuten die Ausgräber Kal-e Chendar als zentralen Kultort einer elymäischen Aristokratie. Die Skulpturen gehören also zur figürlichen Ausstattung dieses wohl bedeutendsten Heiligtums der Elymais.
Forschungsgeschichte zu den Skulpturen
8Das Interesse an den Statuen aus Kal-e Chendar konzentrierte sich beinahe ausschließlich auf zwei Skulpturen: Von Seiten der Klassischen Archäologie fand der Kopf des »Hellenistischen Herrschers« (Abb. 2) Beachtung, handelt es sich doch um ein im Original überliefertes Herrscherporträt und eines der wenigen königlichen Bildnisse aus dem Osten der hellenistischen Welt. Diskutiert wurde vor allem die Benennung des Herrschers, wobei neben Alexander dem Großen verschiedene im Iran regierende Seleukiden vorgeschlagen wurden. Doch letztlich ließen die starke Beschädigung und Verformung des Kopfes einen überzeugenden Vergleich mit den Münzporträts der Seleukiden nicht zu, so dass die Benennung des Porträts bis in jüngste Zeit offenbleiben musste.
9Im Rahmen der Iranischen Kunstgeschichte spielte dagegen der »Partherfürst« eine Rolle (Abb. 5). Als eine Art Paradestück der »parthischen Kunst« lässt man ihn zwar häufig antreten, um die Partherzeit zu illustrieren, aber eine umfassende ikonographische und stilistische Untersuchung dieser bekannten Statue blieb bislang aus. Selbst Klassische Archäolog:innen, die ihre Forschungen auch auf den Bereich der Vorderasiatischen und Iranischen Archäologie erstrecken, haben den »Partherfürsten« bisher weder stilistisch noch als Porträt untersucht und beispielsweise kaum versucht, den Dargestellten über einen Münzvergleich zu identifizieren. Zwar wurden verschiedene Datierungen dieser Statue zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr. vorgeschlagen, doch beruhten diese mehr auf historischen Erwägungen als auf stilistischen Analysen.
10Dieser große Datierungsrahmen für den »Partherfürsten« hängt u. a. mit den generellen Schwierigkeiten in der Beurteilung der »parthischen Kunst« zusammen: Der Begriff suggeriert das Vorhandensein einer einheitlichen Formensprache im Arsakidenreich – das meist Partherreich genannt wird, nach dem Gebiet Parthien, von dem die arsakidische Expansion ausging. Doch Forschungen der letzten Jahre, insbesondere zur figürlichen Kunst aus Dura-Europos, Palmyra, Hatra und Nisa, haben traditionelle Konzepte zur »parthischen Kunst« hinterfragt. Dabei wurde herausgearbeitet, dass es im Arsakidenreich keine einheitliche Formensprache gab. Vielmehr scheint die Kunstproduktion in den verschiedenen Regionen des Reiches eine jeweils eigene Entwicklung genommen zu haben, wobei hellenistische Traditionen in unterschiedlicher Weise rezipiert wurden. So muss also statt von »parthischer Kunst« von »den Künsten bzw. Kunstprovinzen im Arsakidenreich« gesprochen werden.
11Die Elymais als ein mögliches Kunstzentrum hellenistischer und parthischer Zeit spielte in dieser Forschungsdiskussion bisher keine Rolle. Diese Lücke will das Projekt zu den Skulpturen aus Kal-e Chendar schließen.
Der »Hellenistische Herrscher« im Iranischen Nationalmuseum
12Das Porträt des »Hellenistischen Herrschers« ist eines der ganz wenigen im Original erhaltenen hellenistischen Herrscherporträts, konnte jedoch aufgrund seiner starken Deformation lange nicht identifiziert werden. Dies war der Anlass für eigene Studien, die in wenigen Wochen der Jahre 2015 und 2016 durchgeführt wurden [4]. Ihr Ziel war die Rekonstruktion des Porträtkopfes, der in der Antike offenbar einer damnatio memoriae ausgesetzt war und zerschlagen und verbogen worden. Deshalb wurden der Kopf und die Gesichtszüge mit digitaler 3D-Technologie modelliert, wiederhergestellt (Abb. 3) und ein entsprechender 3D-Druck angefertigt, der die überraschend jugendlichen Gesichtszüge offenbart. Der rekonstruierte Kopf wurde 2017 dem Iranischen Nationalmuseum übergeben, wo er seitdem neben dem Original ausgestellt wird. Ein Vergleich der Gesichtszüge mit den Münzdarstellungen der Seleukiden und ihrer Nachfolger im Südwesten des Iran legt eine Identifizierung mit Kamnaskires I. oder Okkonapses nahe. Diese Könige gehören zu einer Dynastie, die um 147 v. Chr. für ein knappes Jahrzehnt ein von Seleukiden und Parthern unabhängiges elymäisches Königtum errichtete, sich auf ihren Münzen aber in hellenistischer Tradition unbärtig und kurzhaarig darstellen ließen.
13Über die Rekonstruktion und Datierung des Porträts hinaus gelang es, die gesamte Statue zu rekonstruieren (Abb. 4). Denn im Iranischen Nationalmuseum wurden noch weitere, vorher unberücksichtigte Bronzefragmente dieser Statue gefunden. Drei Fragmente konnten zu einem Arm zusammengesetzt werden. Durch die Haltung des Arms – erhoben und die Hand um einen stabförmigen (verlorenen) Gegenstand gelegt – ergibt sich die Haltung der gesamten Figur: der unbekleidete Herrscher stützte sich mit der erhobenen Linken auf einen Speer. Diese seit Alexander dem Großen für hellenistische Herrscher charakteristische Haltung ist vor allem von Münzbildnissen, Statuetten und anderen Darstellungen in der Kleinkunst geläufig. Hingegen waren bisher keine entsprechenden großformatigen Bronzeoriginale hellenistischer Zeit bekannt, weshalb die Wiedergewinnung dieser Statue für die Geschichte der hellenistischen Kunst und Herrscherpräsentation von großer Bedeutung ist.
14Die Studien zum »Hellenistischen Herrscher« hatten die Fragmente der Arme und des linken Beins zunächst aufgrund übereinstimmender Dimensionen der Figur zugeordnet. Die Zugehörigkeit wurde durch vergleichende Untersuchungen zur Herstellungstechnik der Bronzeskulpturen sowie 2016 vorgenommene Materialanalysen mit Röntgenfluoreszenz (pXRF) bestätigt [5]. Sie deuteten darüber hinaus an, dass die Skulpturen nicht nur ikonographisch eine »hellenistische« und eine »parthische« Gruppe bilden, sondern auch in Bezug auf das angewendete Gussverfahren und die von den Bronzebildnern verwendeten Legierungen. Aufgrund dieser vielversprechenden Ergebnisse sieht das 2021 begonnene Forschungsprojekt auch umfangreiche herstellungstechnische und archäometrische Untersuchungen der Bronzen vor.
Ikonographie und Bildprogramm
15Obwohl einzelne Skulpturen des Fundkomplexes durchaus bekannt sind, wurden sie bisher nicht im Zusammenhang betrachtet und als figürliche Ausstattung eines antiken Heiligtums ausgewertet. Wen stellen die Skulpturen überhaupt dar? Wie ist das inhaltliche und chronologische Verhältnis der Skulpturen zueinander und ihr Verhältnis zum Heiligtum, in dem sie einst präsentiert wurden? Diesen Fragen widmet sich der archäologisch-kunsthistorische Teil des Projektes.
16Ein Überblick über die im Iranischen Nationalmuseum in Teheran befindlichen Skulpturen wurde bereits während der Vorstudien 2015 und 2016 gewonnen. Dort sind unter der Angabe »aus Shami« insgesamt 18 meist größere Bruchstücke inventarisiert, die zu 13 Statuen und Statuetten aus Bronze und Marmor gehörten.
17Fünf der Skulpturen orientieren sich an griechischen Darstellungskonventionen oder zeigen Figuren der griechischen Mythologie: Dazu gehört neben der leicht überlebensgroßen Statue des »Hellenistischen Herrschers« das Bruchstück eines linken Unterschenkels, das offenbar von einer lebensgroßen, ebenfalls unbekleideten männlichen Bronzefigur stammt. Eine halblebensgroße Statue des Herakles ist durch sein charakteristisches Attribut, eine Keule mit plastisch hervortretenden Astknoten, belegt (Abb. 7). Ebenfalls halbe Lebensgröße hatte eine weibliche Marmorstatue, von der sich der stark bestoßene Kopf erhalten hat. Schließlich ist unter diesen »hellenistischen« Skulpturen auch eine Statuette des Dionysos oder einer Figur aus seinem Gefolge zu nennen, von der sich nur ein Pantherfell erhalten hat, das über eine unregelmäßige – ebenso wie die Figur verlorene – Unterlage gebreitet war.
18Sieben Skulpturen zeigen langhaarige und bärtige Figuren in weiten Hosen und langärmligen Gewändern, die also »parthischen«, im Arsakidenreich verbreiteten Darstellungsformen folgen. Von diesen ist der beinahe vollständig erhaltene, leicht überlebensgroße »Partherfürst« die bekannteste Statue (Abb. 5). Von zwei Figuren ähnlicher Größe zeugt eine von Stein publizierte bronzene Kalotte mit kinnlangem Haar und Diadem, die im Museumsinventar als Verlust geführt wird, und der ausgestreckte rechte Arm einer mit einem langärmligen Gewand bekleideten Statue (Abb. 6). Zu halblebensgroßen Statuen gehörte der Marmorkopf eines spitzbärtigen Herrschers, der wie der »Partherfürst« ein breites, über die Stirn geführtes Diadem im halblangen Haar trägt und ein angewinkelter, mit einem langen Ärmel bedeckter rechter Bronzearm. Ein mit einem faltenreichen Lederstiefel bekleideter Fuß und Unterschenkel stammt von einer Bronzestatuette, die man sich ähnlich vorstellen darf wie die bis auf Kopf und rechten Unterarm vollständig erhaltene Bronzestatuette eines Mannes, der in ein langärmliges, über der Hüfte gegürtetes weites Gewand und weite Hosen gehüllt ist (Abb. 8).
19Von einer lebensgroßen Statue ist nur die rechte, separat gearbeitete Bronzehand erhalten, so dass nicht zu entscheiden ist, ob sie zu einer Statue »hellenistischer« oder »parthischer« Prägung gehörte.
Die Skulpturenfragmente im British Museum
20Bei den in London befindlichen Skulpturen aus Kal-e Chendar handelt es sich um meist kleinere Bruchstücke von Statuen aus Bronze, die während der Grabungen von Stein gefunden und 1937 durch Fundteilung dem British Museum, Department of the Middle East, zugesprochen wurden. Zusammen mit wenigen anderen Kleinfunden aus Steins Grabungen sind sie im online-Katalog des British Museum verzeichnet, aber ohne Fotos und mit knappen, wenig aussagekräftigen Beschreibungen.
21Für eine erste Untersuchung dieses Materials wurde deshalb im September 2021 eine Studienreise nach London unternommen. Wie sich herausstellte, sind 14 der 35 Kleinfunde aus Steins Grabungen Bruchstücke von Bronzestatuen. Davon sind die meisten zwar so klein, dass sich nicht bestimmen lässt, zu was für Statuen sie ursprünglich gehörten. Dennoch lieferten sie eine wichtige Information. Denn im Unterschied zu den für die Museumspräsentation restaurierten Statuen und Fragmenten im Iranischen Nationalmuseum sind diese Bruchstücke nur leicht gereinigt worden – der Sinter, mit dem sie durch die Lagerung im Boden überdeckt sind, wurde nicht entfernt. Auch die Bruchkanten sind von diesen mineralischen Ablagerungen bedeckt, woraus gefolgert werden kann, dass die Bronzen bereits in der Antike zerschlagen worden sind und nicht erst von den Siedlern, welche 1935 beim Hausbau auf die Skulpturen gestoßen waren.
22Aus zwei der Londoner Fragmente lässt sich eine gewisse Vorstellung der Statuen gewinnen, zu denen sie gehörten: Der große Zeh eines rechten Fußes (Abb. 9) stammt offenbar von einer barfuß oder mit Sandalen dargestellten Statue – also ohne die für die in der Elymais und anderen Regionen in parthischer Zeit typischen Lederschuhe oder -stiefel. Der bloße Zeh deutet deshalb auf eine nackte oder mit einem kurzen Mantel bekleidete Figur im griechischen Stil. Außerdem ist der Zeh größer als der Zeh eines Menschen. Nach den antiken Darstellungskonventionen charakterisiert die Überlebensgröße den Dargestellten als eine besondere, mit übermenschlicher Kräften ausgestattete Gestalt. Es ist also anzunehmen, dass der große Zeh zur Statue eines Gottes oder Herrschers gehörte.
23Das Bruchstück eines unbekleideten menschlichen Beines ist 21 cm lang (Abb. 10). Der Verlauf der Sehnen und die Wölbung der Muskeln lässt sich in ähnlicher Weise am rechten Oberschenkel eines mit angewinkelten Beinen sitzenden Mannes beobachten, weshalb das Bruchstück wahrscheinlich von der Statue eines Sitzenden stammt. Da auf seinem Oberschenkel kein Ansatz eines Kleidungsstückes zu erkennen ist, war er offenbar nackt dargestellt. Hellenistische Herrscher wurden zwar häufig in heroischer Nacktheit dargestellt, aber selten sitzend, so dass der Oberschenkel wohl von keiner Herrscherstatue stammt. Eher ist an eine mythologische Figur zu denken, beispielsweise Herakles oder Marsyas, die nicht selten sitzend dargestellt werden.
Projektziele und Methoden der vergleichenden Untersuchungen
24Insgesamt haben die im Februar 2021 begonnenen Forschungen zum Ziel, die Skulpturen aus Kal-e Chendar archäologisch, kunsthistorisch und technikgeschichtlich einzuordnen. Dafür sollen u. a. die größtenteils in Fragmenten überlieferten Statuen zeichnerisch oder im digitalen 3D-Modell rekonstruiert werden. Die hier vorgestellten Überlegungen zeigen exemplarisch, wie selbst kleine Fragmente bei genauer Betrachtung Hinweise auf das Aussehen und die Bedeutung der Statuen geben.
25Um die auf zwei Museen und Kontinente verteilten Skulpturenfragmente vergleichen und zusammengehörige Fragmente identifizieren zu können, werden von sämtlichen Fragmenten digitale 3D-Modelle erstellt. Auf diese Weise kann möglicherweise mit den in London befindlichen Stücken ein Fehlstück im Torso des »Partherfürsten«, das auf der vor der Restaurierung entstandenen Aufnahme noch zu sehen ist (Abb. 5), ergänzt werden. Außerdem werden in dem Projekt die bei der Rekonstruktion des »Hellenistischen Herrschers« erfolgreich eingesetzte Materialanalysen mit pXRF auf sämtliche Bronzeskulpturen ausgeweitet, um ihre Legierungen zu vergleichen und so weitere zueinander gehörige Fragmente zu identifizieren. Mit den technikgeschichtlichen und archäometrischen Untersuchungen erschließt das Projekt erstmals Bronzen aus dem Osten der hellenistischen Welt für Forschungen zu antiken Großbronzen.
26Insgesamt verspricht das Projekt also wichtige Beiträge zum Verständnis des Heiligtums in Kal-e Chendar, zur Geschichte der hellenistischen und »parthischen« Kunst sowie zum Forschungsfeld antiker Großbronzen.
Kooperationen
National Museum of Iran, Teheran (J. Nokandeh); Art University of Isfahan, Isfahan (O. Oudbashi).
Förderung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).
Leitung des Projektes
G. Lindström.
Abstracts
Zusammenfassung
Kal-e Chendar/Shami, Iran. Ein ungehobener Schatz hellenistischer Plastik aus der Elymais. Die Arbeiten des Jahres 2021
In Kal-e Chendar/Shami, Khuzestan (Südwest-Iran), wurde 1935 und 1936 ein bedeutender Fundkomplex hellenistischer und parthischer Skulpturen entdeckt. Diese heute im Iranischen Nationalmuseum in Teheran und im British Museum in London befindlichen Statuen werden nun erstmals im Zusammenhang untersucht. Das 2021 gestartete Projekt wird mit archäologischen, kunsthistorischen und naturwissenschaftlichen Untersuchungen einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Heiligtums in Kal-e Chendar, zur Geschichte der hellenistischen und »parthischen« Kunst sowie zur Erforschung antiker Großbronzen leisten. Dieser Bericht stellt die Ergebnisse der 2015 und 2016 erfolgten Voruntersuchungen in Teheran und der 2021 im British Museum durchgeführten Fundaufnahme vor.
Keywords
Archäometrie, Bronze, Heiligtümer, Hellenistische Zeit, Herstellungs- und Verarbeitungstechniken, Marmor, parthisch, Statuen, Stil
Abstract
Kal-e Chendar/Shami, Iran. A treasure chest of Hellenistic sculpture from Elymais. Season 2021
In 1935 and 1936, an important find complex of Hellenistic and Parthian sculptures was discovered in Kal-e Chendar/Shami, Khuzestan (southwest Iran). These statues, now in the Iranian National Museum in Tehran and the British Museum in London, are now being studied in context for the first time. The project, launched in spring 2021, includes archaeological, art-historical and natural-scientific investigations and will make an important contribution to the understanding of the sanctuary at Kal-e Chendar, to the history of Hellenistic and »Parthian« art, and to the study of ancient large bronzes. This is the report on the findings of the preliminary studies conducted in Tehran in 2015 and 2016 and the studies at the British Museum in 2021.
Einleitung
Fundgeschichte der Skulpturen und Objektbiographie
Iranisch-italienische Ausgrabungen in Kal-e Chendar
Forschungsgeschichte zu den Skulpturen
Der »Hellenistische Herrscher« im Iranischen Nationalmuseum
Ikonographie und Bildprogramm
Die Skulpturenfragmente im British Museum
Projektziele und Methoden der vergleichenden Untersuchungen
Kooperationen
Förderung
Leitung des Projektes
Abstracts