Abteilung Athen
Kalapodi, Griechenland
Der Südtempel von Kalapodi. Zu den Grundrissen der früh- und hocharchaischen Phase
Die Arbeiten der Jahre 2019 und 2020
1Der folgende Bericht basiert auf Arbeiten, die im Zuge zweier DAI-Forschungsstipendien von September bis Dezember 2020 sowie von Februar bis Mai 2021 durchgeführt wurden. Sie standen im Zusammenhang mit der geplanten Publikation des Südtempels von Kalapodi. Die Rahmenbedingungen der Arbeiten waren für sie prägend und sind daher kurz zu nennen: Nachdem der die Ausgrabung vor Ort begleitende Baufoscher, Nils Hellner, aus dem Projekt ausgeschieden war und der mit der Publikation nunmehr Beauftragte und Verfasser des vorliegenden Berichts die Grabungen nicht aus eigener Anschauung kannte, konnten Beobachtungen nur mittelbar durch die Auswertung diverser vorläufiger Berichte, von Aufsätzen zu Teilaspekten der Grabungsergebnisse und auf Grundlage der von Hellner dankenswerterweise zur Verfügung gestellten persönlichen Aufzeichnungen in die Publikation einfließen. Hierüber hinaus waren die Arbeiten durch die bekannten, pandemiebedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens während des Förderungszeitraums geprägt.
2Vor diesem Hintergrund musste der Fokus der Arbeiten auf die kritische Revision früherer Berichte und die Klärung von Einzelfragen gelegt werden. Einen Schwerpunkt bildeten hierbei die Entwurfsanalyse und Einordnung insbesondere der komplexeren Tempelbauten, die während der früharchaischen und der archaischen Phase des Baus (ca. 700–590/570 v. Chr. bzw. 550/540–480 v. Chr.) entstanden sind. Sie werden von den aktuellen Forschungen als siebte und neunte Phase innerhalb der Zeitspanne von etwa 1,5 Jahrtausenden (etwa 1400 v. Chr.–3./4. Jh. n. Chr.) geführt, in denen das Heiligtum bestand (Abb. 1). Die beiden Bauten sind sowohl nach Größe als auch nach Orientierung ihrer Grundrisse verschieden und lassen jeweils ein eigenständiges Maßsystem erkennen.
Der früharchaische Tempel
3Ohne Frage wurde der große apsidenförmige Lehmziegelbau der siebten Phase einem deutlich größeren architektonischen Anspruch gerecht als seine Vorgänger. Erstmals ist hier in der griechischen Architektur eine Prostasis nachzuweisen, die eine viersäulige Front ausbildete und der über 4 m breiten Öffnung der Eingangswand vorangestellt war. Die Wände im Innenraum waren mit gestalteten Stützen gegliedert, die dazwischenliegenden Wandfelder stuckiert und zudem figürlich bemalt (vgl. Abb. 2. 3). Inmitten des Raums war ein Π-förmiger Einbau aus Lehmziegeln errichtet, der, wie Wolf-Dieter Niemeier vermutete, mit der Funktion des Heiligtums als Orakelstätte in Zusammenhang stand. Die weitgehend erhaltenen Grundmauern des Tempelbaus gestatten Rückschlüsse auf das in Größen- und Maßverhältnissen einfach abgestimmte Konzept des Grundrisses.
4Die Maßeinheit, in der sich die meisten Einzelmaße in glatten Werten zum Ausdruck bringen lassen, findet sich bei einem Wert von 35,2 cm, der der Größe eines samischen Fußes (34,97 cm) recht nahe kommt und dem Entwurf des Baus als Modul (M) zugrunde gelegen zu haben scheint. Knapp zusammengefasst war die Länge des Gesamtbaus in 70 M konzipiert, seine Breite mit 21 M, womit das Verhältnis der Außenmaße von 10:3 deutlich wird. Dabei nimmt die Länge des Hauptraums 63 M ein, die Tiefe der Prostasis 7 M. Offenbar war der Bau seiner Länge nach in sieben Abschnitte à 9 M gegliedert, wovon vier Abschnitte vor und zwei Abschnitte hinter dem Lehmziegelbau zu liegen kamen, der selbst eine einzelne Abschnittslänge von 9 M einnahm.
5Damit wäre der gesamte Grundriss in einem Maßsystem konzipiert, das die wichtigsten Abmessungen des Baus bestimmte und zueinander in Bezug setzte.
6Auch wenn die genauen Hintergründe des Entwurfsverfahrens offenbleiben, ist hier ein ganzzahliges Maßsystem nachzuweisen, das sowohl Längen- und Breitenmaße als auch Detailmaße erfasste (Abb. 2). Damit ist der Tempelbau als räumlicher Körper mit aufeinander abgestimmten Maßen angelegt und unterscheidet sich prinzipiell von Bauten wie den samischen Hekatompedoi, dem Apollontempel von Thermos oder dem Artemistempel in Mazaraki, die vorwiegend im Hinblick auf ihre Längendimension hin konzipiert scheinen, ohne dass die Breite hierzu in ein klar definiertes Verhältnis gesetzt wurde.
Der hocharchaische Tempel
7Der hocharchaische Peripteros der neunten Phase bildet ein aussagekräftiges und wichtiges Zeugnis der frühen dorischen Architektur in der Übergangsphase zum monumentalen Steinbau (Abb. 4. 5). Die weitgehende Erhaltung bis auf Höhe des Stylobat und des Toichobat gestattet hier die Klärung vieler Einzelfragen: Die einfache Cella des Baus war von 6 x 11 Holzsäulen umgeben, von denen einige zur Zeit der Zerstörung im Jahr 479 v. Chr. durch Steinsäulen ersetzt waren. Die Analyse des Grundrisses führt bei deutlichen Ungenauigkeiten in der Ausführung ein Entwurfskonzept vor Augen, das von folgenden Faktoren bestimmt war:
• Eine einfache Grundstruktur des Grundrisses, die von den Wandachsen der Cella und der Peristase ausgeht.
• Die Anzahl der einheitlichen Säulenjoche an Längs- und Frontseiten ist mit den Achsen des Stylobat abgestimmt (5:10 Joche bzw. Seitenverhältnis des Grundriss-Rechtecks 1:2).
• Die Wand- und Säulenachsen sind in ein Grundraster eingebunden (Peristase: 70 x 35 Quadranten, Cella: 40 x 20 Quadranten; Abb. 6). Dabei fungierte die Seitenlänge der Quadranten (36,4 cm) bei der Bauausführung offenbar als Modul (M). Die Größe scheint von einem Maß von 52 cm abgeleitet, das einer ionischen Elle entspricht.
• Eine einfache, zentral inmitten der Peristase gelegene Cella ohne Pronaos oder Opisthodom.
8Diese Konzeption des Grundrisses gestatte es bei aller Einfachheit, die wichtigsten Teilbereiche des Baus in ein übergeordnetes Maßsystem einzubinden, das offenbar auch Bezüge zwischen Cella und Peristase vorsah. So sind an den Längsseiten der Peristase die dritten Säulen von den Ecken axial auf die Fronten der Cella bezogen. Vergleichbare Bezüge zu den Längsseiten der Cella waren durch geringe Veränderungen der ansonsten einheitlichen Jochweite der Frontsäulen einfach herzustellen (Abb. 6. 7).
9In typologischer Hinsicht ist der Südtempel von Kalapodi einer Gruppe ähnlich konzipierter Peripteroi aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. zuzuordnen, die von Wolfgang Wurster wegen ihrer im Vergleich zu anderen Tempeln verhältnismäßig gedrungenen Grundrissproportionen als ›Kurztempel‹ charakterisiert sind.
10Über derartige Analogien hinaus finden die genannten Entwurfsprinzipien des Südtempels aber auch direkte Entsprechungen im Entwurf von Tempelbauten des 6. Jahrhunderts v. Chr., wie sie insbesondere in Unteritalien nachgewiesen sind (Alter Heratempel, Paestum; Alter Apollontempel B1, Metapont). Große Bedeutung kam dabei allem Anschein nach der zentralen Position der Cella inmitten der Peristase zu, wobei hier explizit der eigentliche Hauptraum des gesamten Naos ohne Pronaos und Opisthodom/Adyton gemeint ist. Offenbar wurden durch zentrische Streckung des Cella-Grundrisses auf einfache Weise sowohl die Proportion auf den Stylobat übertragen als auch dessen Lage bestimmt und zur Cella in Bezug gesetzt. Ein ähnliches Prinzip lässt sich auch am vieldiskutierten Entwurf des Alten Heratempels in Paestum, zumindest in seiner Herleitung durch Hans Riemann, wiederfinden und scheint auch spätere Grundrisskonzepte, wie etwa am Zeustempel von Olympia, bestimmt zu haben (Abb. 8). Während dort das Rechteck der Cella jeweils um den Faktor 2 vergrößert wurde, waren für den Südtempel von Kalapodi nur 1,75 vorgesehen, so dass hier die einfache Cella ohne Pronaos und Opisthodom/Adyton inmitten eines Umgangs stand, der an den Fronten deutlich tiefer war als an den Langseiten.
11Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse bot sich der direkte Vergleich mit dem deutlich schlechter erhaltenen und bisher nur in Grundzügen publizierten Nordtempel von Kalapodi, der etwa zeitgleich mit dem Südtempel in paralleler Ausrichtung und nur 2,5 m weiter nördlich errichtet wurde. Der Peripteros war bei nahezu gleicher Breite wie der Südtempel deutlich länger als dieser, wobei der Naos zwei große Räume aufwies.
12Es zeigte sich, dass am Nordtempel ebenfalls Peristase und Naos anhand ihrer Achsen konzipiert waren, offenbar nach demselben Modulmaß wie am Südtempel, mit gleichen Detailmaßen und ebenfalls auf Grundlage eines entsprechenden quadratischen Rasters (Abb. 6. 7). Die Stylobatmaße bildeten in den Achsen, die wie am Südtempel 46,5 cm hinter den Außenkanten angesetzt wurden, ein Rechteck von 13,10 x 43,68 m, was 36 x 120 M à 36,4 cm entspricht und im Seitenverhältnis von 10:3 steht. Geht man zudem wie am Südtempel von 73 cm starken Mauern des Naos aus, wäre das Achsmaß der Naosbreite mit 7,67 m anzugeben (21 M [7,64 m]), das der Naoslänge mit 89 M (32,39 m). Als Richtmaß des Entwurfs wäre ein Naos von 90 x 21 Modulen naheliegend, da hierbei die Tiefe der Umgänge wie am Südtempel seitlich 7,5 Module, an den Schmalseiten das Doppelte betragen würde.
13Den auf solche Weise abgestimmten Größen lag vermutlich die Absicht zugrunde, dass die Peristase wie am Südtempel mit dem Verhältnis ihrer Jochzahl an Lang- und Schmalseiten (6:20 Joche [7 x 21 Säulen]) das Maßverhältnis der Stylobat-Achsen (36 x 180 M bzw. 3:10) widerspiegelte. Wenngleich wegen der gleichen Stylobattiefe an beiden Bauten davon auszugehen ist, dass die Säulen zumindest ähnlich, wenn nicht sogar gleich groß waren wie am Südtempel, wäre damit die Jochweite mit 6 M anstatt wie am Südtempel mit 7 M konzipiert gewesen (Abb. 6).
14Über diese neue Sichtweise auf den Nordtempel hinaus erwies sich im Zuge der Untersuchung aber auch, dass beide Bauten offenbar zusammen auf einem gemeinsamen Planraster entworfen wurden. Dessen Abmessung beträgt in Bezug auf die Säulenachsen 120 x 81 Moduleinheiten, steht also nahezu im Verhältnis von 3:2 (Abb. 6). Der Grund für die nur angenäherte Umsetzung dieses Verhältnisses ist nicht bekannt. Möglicherweise war die Gesamtbreite der beiden Bauten in ihren gemeinsamen äußeren Säulenachsen (29,484 m) als ›Hekatompedos‹ beabsichtigt (Abb. 6. 7).
15Die Ergebnisse überraschen für Tempelbauten aus der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. Es scheint sich hier um eine als Doppeltempel einheitlich konzipierte Anlage zu handeln, die in sich jedoch unterschiedliche Entwurfsansätze für beide Teilbauten zu erkennen gibt: Den aus seiner eigenen Grundrissgeometrie heraus konsequent entwickelten und sämtliche Teilbereiche in einem übergeordneten Maßkonzept einbindende Südtempel auf der einen, und auf der anderen Seite aber den deutlich größeren Nordtempel, dessen Grundriss die Ergebnisse seines Nachbarentwurfs frei adaptiert und in neuen Zusammenhängen kombiniert.
16Die zeitliche Einordnung der Tempel von Kalapodi trifft in eine Phase der Neuorientierung innerhalb der Geschichte des griechischen Tempelbaus: Nachdem die alten konstruktiven Bindungen des Holzbaus durch die aufkommende Quaderbauweise obsolet geworden waren, stellte sich die Frage nach neuen ästhetischen Ordnungsprinzipien. Vor diesem Hintergrund führt die Anlage einen relativ freien und experimentellen Umgang mit Grundrisskonzeptionen vor Augen. Insbesondere der Südtempel gibt Einblicke in weit entwickelte Entwurfsmethoden, die in dieser Deutlichkeit bisher an kaum einem anderen Bau der Zeit erkennbar wurden.
17Die Fokussierung auf Fragen des Tempelentwurfs führt somit zu einer grundlegend neuen Sichtweise auf den archaischen Südtempel von Kalapodi, die auch unerwartete Zusammenhänge mit dem benachbarten Nordtempel umfasst. Damit ist zu hoffen, dass die Untersuchung über die Klärung von Einzelaspekten in der Entwicklungsgeschichte des Heiligtums hinaus auch zu neuen Erkenntnissen zur griechischen Architektur des 6. Jahrhunderts v. Chr. beitragen konnte.
Förderung
DAI Forschungsstipendium 2019 (September–Dezember) und 2020 (Februar–Mai).
Leitung des Projektes
K. Sporn.
Abstracts
Zusammenfassung
Kalapodi, Griechenland. Der Südtempel von Kalapodi. Zu den Grundrissen der früh- und hocharchaischen Phase. Die Arbeiten der Jahre 2019 und 2020
Der Südtempel von Kalapodi lässt sowohl für die früharchaische als auch für die hocharchaische Phase ein Maßsystem erkennen, in dem die Größenverhältnisse des jeweiligen Baus konzipiert waren. Insbesondere für den Entwurf des archaischen Peripteros wurde ein im Grunde einfaches Verfahren nachgewiesen, das einen schlüssigen Bezug von Cella zu Peristase herstellte. Die wesentlichen Bestandteile des Baus waren innerhalb eines Modulsystems in ihren Dimensionen abgestimmt, der Grundriss basierte auf einem durchgehenden Quadratraster. Der Vergleich mit dem unmittelbar benachbarten Nordtempel führt schließlich zu der Erkenntnis, dass beide Bauten gemeinsam geplant wurden.
Schlagworte
Archaisch, Tempel
Abstract
Kalapodi, Greece. The South Temple of Kalapodi.
Notes on the ground plan of the early archaic and high archaic phases. Season 2019 and 2020
The South Temple of Kalapodi reveals a system of measurements for both the early archaic and the high archaic phases in which the proportions of the respective structure were conceived. For the design of the archaic peripteros in particular, an in principle simple procedure was demonstrated that established a coherent relationship between cella and peristasis. The essential components of the building were coordinated in their dimensions within a modular system and the ground plan was based on a continuous square grid. The comparison with the immediately neighbouring northern temple finally leads to the conclusion that both buildings were planned in a joint arrangement.
Der früharchaische Tempel
Der hocharchaische Tempel
Förderung
Leitung des Projektes
Abstracts