Zentrale
Karthago, Tunesien
Datengesteuerte Modellierung des Romanisierungsprozesses in Nordafrika
Forschungsergebnisse des Jahres 2020
Geographischer und zeitlicher Rahmen
1Das im heutigen Tunesien gelegene Karthago wurde als Ergebnis des dritten Punischen Krieges im Jahr 146 v. Chr. durch Rom besiegt und erobert. Damit endete die phönizisch-punische Vormachtstellung in Nordafrika. In den folgenden Jahrhunderten erweiterte das Römische Reich stetig seine Grenzen und seinen Einfluss im neu eroberten Gebiet; die größte Ausdehnung erreichte es um ca. 117 n. Chr. (Abb. 1).
2Entscheidungsgrundlage für die Auswahl Tunesiens als Untersuchungsgebiet ist die dort vorherrschende gute Quellenlage. Eine erste Datengrundlage bildete dabei die im Rahmen des Al-Idrisi-Projektes erstellte Kartierung, welche die georeferenzierten Fundstellen und Katalogeinträge des »Atlas archéologique de la Tunisie« erfasst. Dabei handelt es sich für Tunesien um eine Datensammlung von mehr als 6000 Fundplätzen aus prähistorischer bis byzantinischer Zeit.
Fragestellung
3Neben einer zu erwartenden allmählichen Adaption der eingeführten kulturellen Neuerungen der römischen Besatzer wurden viele Veränderungen von den Römern gezielt eingeführt und durchgesetzt. Dazu zählen beispielsweise administrative Strukturen, die römische Götterwelt, Architektur und Infrastruktur. Das Projekt beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern diese kulturellen Neuerungen mittels mathematischer Methoden analysier- und darstellbar sind und ob sich neben der Identifizierung derartiger Prozesse auch deren Verbreitungsrichtung, Intensität und zeitlicher Ablauf darstellen lassen.
Ergebnisse
4An dieser Stelle kann nur ein Teil der Ergebnisse exemplarisch vorgestellt werden. Ausgewählt werden zu diesem Zweck Resultate, die auch ohne Beschreibung und Erklärung der angewandten statistischen und mathematischen Methoden gut darstellbar und verständlich sind.
Stadtstatus und Siedlungsstruktur
5Die administrative Romanisierung von Städten stellt sich als geeigneter Indikator zur Untersuchung des dynamischen Wandels im Untersuchungsgebiet dar. Hierfür wurden die drei Rechtsformen colonia, municipium und civitas oberbegrifflich herangezogen und untersucht. Der nach römischem Vorbild verliehene Status einer Stadt gibt Aufschluss über eine hierarchische Gewichtung und ermöglicht ferner in vielen Fällen anhand von Inschriften eine zeitliche Einordnung. In der Regel erhielten bereits existierende Städte einen entsprechenden Status, bisweilen – besonders in der frühen Phase bis zum 1. Jahrhundert n. Chr. – handelte es sich auch um Neugründungen.
6Eine zeitliche Zuweisung war im Untersuchungsgebiet für 100 Städte möglich. Bei der Analyse des Neuaufkommens von colonia, municipium und civitas wird deutlich, dass sich ab 49 v. Chr. (terminus ante quem) bis zum ersten nachchristlichen Jahrhundert in erster Linie coloniae etablieren. Civitates treten zwar noch früher auf (bereits ab 146 v. Chr.), jedoch lediglich vereinzelt. Gleichzeitig erreicht die Dichte des Neuaufkommens von civitates seinen Höchststand früher als das der coloniae und municipia, nimmt dann aber bereits wieder ab, als das Neuaufkommen von coloniae und municipia um 200 n. Chr. seinen Höhepunkt erreicht (Abb. 2 links).
7Parallel dazu weisen civitates im Schnitt eine deutlich kürzere Gesamtlaufzeit auf, wie die Lebensdaueranalyse veranschaulicht (Abb. 2 rechts). Der errechnete Median, also der Zeitpunkt, an dem sich 50 % der ›Ausfälle‹ ereignet haben, liegt bei 196 n. Chr., ein 75-prozentiger Ausfall ist bereits ab 244 n. Chr. zu verzeichnen. Dies liegt jedoch nicht an einem Verschwinden dieser Städte, sondern daran, dass eine civitas im Laufe ihres Bestehens häufig einen höheren Status, also eine Erhebung zum municipium oder zur colonia, erlangt.
8Demgegenüber liegt der Median der allgemeinen Lebensdauer für municipia in der Analyse bei 299 n. Chr. (75 % Ausfälle: 337 n. Chr.) Auch diese erhalten bisweilen eine Promotion zur colonia. Die Lebensdauerkurve zeigt aber, dass dies erst nach einer längeren durchschnittlichen Laufzeit als bei civitates geschieht, bzw. dass der Status des municipiums durchgehend bestehen bleibt.
9Die Lebensdauerkurve für coloniae ergibt mit einem Median von 302,5 n. Chr. und einem 75-prozentigen Ausfall bei 357,5 n. Chr. die längste Laufzeit. Das Ende der errechneten Laufzeit wird lediglich durch den Umstand beeinflusst, dass Inschriften im Untersuchungsgebiet ab dem 5. Jahrhundert n. Chr. rar werden und somit ab diesem Zeitpunkt nur noch wenige Daten zur Verfügung stehen. Wahrscheinlich sind also für coloniae und municipia insgesamt längere Laufzeiten zu erwarten, als in der Lebensdaueranalyse mittels datierbarer Inschriften abgebildet werden können. Die vorliegenden Daten sind jedoch ausreichend, um einen generellen, unterschiedlichen Lebensdauertrend der drei Stadtformen abbilden zu können.
10Auch bei der räumlichen Verteilung ergeben sich in der Einzelbetrachtung unterschiedliche Strukturen. Am Beispiel des Siedlungsbildes im 3. Jahrhundert n. Chr. zeigt sich, wie sich coloniae gleichmäßig über das gesamte Untersuchungsgebiet verteilen (Abb. 3). Davon ausgenommen ist lediglich jene Region Tunesiens, die von einer siedlungsfeindlichen Salzseesteppe geprägt ist. Dazu konträr konzentrieren sich municipiae vornehmlich in einem einzelnen Dichtecluster im nördlichen Tunesien (Abb. 4).
Götterkult und Christentum
11Die Ablösung punischer Gottheiten ist durch die römischen Besatzer aktiv vorangetrieben worden. Teilweise wurden bestehende Götter auch durch die ›Interpretatio Romana‹ in das römische Pantheon integriert.
12Die Verbreitung der neu eingeführten Religion lässt sich anhand römischer Tempel nachvollziehen. Durch Weihinschriften ist deren Entstehungszeitpunkt häufig bestimmbar. Zu den frühesten Belegen zählen dabei ein Tempel des Apollo (34–35 n. Chr.) in Bulla Regia und ein Tempel des Baal-Saturn (36 n. Chr.) in Thugga. Die Kerneldichte aller erfassten römischen Tempel ergibt drei Hauptclusterzonen, wobei diese konzentriert im nördlichen Tunesien auftreten. Bulla Regia und Thugga liegen dabei im Zentrum zweier dieser Dichtezentren (Abb. 5). Mit Hilfe der analysierten Standarddistanzen zu den Tempelneugründungen der nachfolgenden zwei Jahrhunderte – einer statistischen Methode zur Ermittlung von Einzugsgebieten bivariater Daten bzw. räumlicher Punkte – ergibt sich eine kontinuierliche Erweiterung der Einzugsgebiete römischer Tempel in östlicher Richtung (Abb. 5).
13Für christliche Bauten besteht die Tradition von Weihinschriften nicht mehr fort, so dass hier kein direkter Vergleich zu den Tempeln gezogen werden kann. Durch christliche Synoden und Konzile sind jedoch zahlreiche Bischofssitze in Tunesien zu lokalisieren und datieren. Die erste Konferenz der Bischöfe fand 251 n. Chr. in Karthago statt, direkt nach dem Tod des Imperator Decius (249–251), welcher Christen, auch in Nordafrika, verfolgen ließ. Die Verteilung der Bischofssitze zeigt bereits zu diesem frühen Zeitpunkt eine erstaunlich breite Streuung über das gesamte Untersuchungsgebiet (Abb. 6). Dies spricht für eine bis dahin erfolgreiche, von Rom unabhängige Etablierung der christlichen Bewegung. Das Christentum wurde erst im Jahr 380 n. Chr. unter Theodosius I. zur römischen Staatsreligion.
Ausblick
14Die vorgestellten Ergebnisse zeigen die Anwendungsmöglichkeiten statistischer und geostatistischer Methoden für die Projektfragestellung, bilden aber nur einen Teil der Möglichkeiten ab. So können etwa neben den hier vorgestellten Resultaten zusätzlich mittels multivariater Methoden Zusammenhänge unterschiedlicher Faktoren, wie beispielsweise Stadtstatus und Bischofssitz, ermittelt werden.
15Archäologische und topographische Informationen (wie römische Meilensteine und digitale Geländemodelle) dienen der Rekonstruktion von Lücken im bereits bekannten römischen Straßennetz. Soziale Netzwerke sind ebenfalls von Interesse, wobei die Betrachtung hier vornehmlich auf einer makroskopischen Ebene mit architektonischen Elementen erfolgt.
16Weitere netzwerkbasierte Anwendungen werden ferner im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit mit dem ZIB entwickelt, wobei dort die Analyse von Netzwerken auf zeitlicher und räumlicher Ebene im Vordergrund steht. Die Kombination mathematischer Methoden mit geostatistischen Anwendungen aus der Archäologie im Rahmen der kooperativen Zusammenarbeit ist ebenfalls eines der anvisierten Ziele.
Kooperationen
Zuse Institut Berlin (ZIB).
Förderung
Math+.
Leitung des Projektes
F. Fless, N. Djurdjevac Conrad (ZIB), B. Ducke, Ch. Schütte (ZIB).
Team
R. Chemnitz (ZIB), M. Kostré (ZIB), F. Schweigart (DAI/ZIB).
Abstracts
Zusammenfassung
Karthago, Tunesien. Datengesteuerte Modellierung des Romanisierungsprozesses in Nordafrika
Als Teil des Math+ Emerging Field 5 »Concept of change in historical processes« (EF5-2) setzt das im Jahr 2019 angelaufene Projekt »Data-driven Modeling of the Romanization Process in Northern Africa« an der Schnittstelle zwischen Mathematik und Archäologie an. Ziel ist es, daten- und netzwerkbasierte Ansätze zur rechnergestützten Modellierung mit archäologischen Daten zur Rekonstruktion und Visualisierung von kulturellen Veränderungen als Ergebnis neuer historischer Einflüsse zu entwickeln. Konkret wird zu diesem Zweck in interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Archäologischen Institut und Mathematiker*innen des Zuse-Instituts, Berlin (ZIB) der Romanisierungsprozess in Nordafrika, mit Fokus auf Tunesien, untersucht.
Schlagworte
Christen, Civitates, Coloniae, Municipien
Abstract
Carthage, Tunisia. Data-driven Modeling of the Romanization Process of Northern Africa
As part of the Math+ Emerging Field 5 »Concept of change in historical processes« (EF5-2), the project »Data-driven Modeling of the Romanization Process in Northern Africa«, which started in 2019, attaches on the interface between mathematics and archaeology. The aim of the project is to develop data-driven and network-based approaches for computational modeling of social and cultural changes with archaeological data to reconstruct and visualize cultural changes as a result of new historical developments. For this purpose, the Romanization in Northern Africa – with focus on the region of Tunisia – is evaluated in an interdisciplinary cooperation between the Zuse-Institut, Berlin (ZIB) and the German Archaeological Institute (DAI).

Geographischer und zeitlicher Rahmen
Fragestellung
Ergebnisse
Stadtstatus und Siedlungsstruktur
Götterkult und Christentum
Ausblick
Kooperationen
Förderung
Leitung des Projektes
Team
Abstracts