Der Knabe aus Chimtou
1»Nicht mehr erklären lässt sich dies Kunstwerk. Es kann ja nicht einmal aussagen, wer jetzt den Kopf, der ihm gehörte, besitzt.« Diese Sätze eines unbekannten Dichters in der Anthologia Palatina XVI, 85 stammen aus der Sammlung des Beamten am Hof zu Konstantinopel Maximos Planudes, der die Arbeit an der Anthologie im Jahr 1299 abschloss. Seine Worte treffen auch auf die hier vorzustellende Statue[1] zu, abschließend erklärt ist sie damit noch nicht.
2An der Ostseite des Tempelbergs von Simitthus (heute Chimtou/Tunesien) liegt unterhalb des Baal-Saturntempels das Heiligtum der Dii Mauri (Abb. 1, M)[2]. Im Zentrum dieses Heiligtum-Bezirks befindet sich ein rechteckiger Bassin-Raum (E), aus dem die bisher wichtigsten Skulpturenfunde in Chimtou stammen. Während der Ausgrabungen des Jahres 1974 fanden sich hier mehrere Fragmente einer Marmorstatue[3]. Aus ihnen ließ sich eine annähernd lebensgroße Jünglingsstatue einschließlich der Plinthe zusammensetzen (Abb. 2. 3. 4. 5. 6. 7), deren Vorlage Ziel dieses Beitrages ist. Es fehlen der Kopf, der rechte Arm, das linke Bein vom Knie bis zum Knöchel, Daumen und Zeigefinger der linken Hand und Teile der Genitalien.
3Frontal steht der nackte Jugendliche vor dem Betrachter. Trotz seines aufgrund der breiten Schultern athletischen Körperbaus kennzeichnen ihn seine Körpergröße – erhaltene Höhe 1,35 m –, die noch nicht angelegte Sägemuskulatur im seitlichen Brustbereich und das fehlende Schamhaar als Puer[4], als Knaben vor dem 15. Lebensjahr. Sein Gewicht lagert auf dem rechten Bein, das linke ist zurückgestellt, die Ferse eben angehoben, die Zehen liegen noch auf. Auffallend zurückhaltend reagiert der Oberkörper, der trotz der zur Spielbeinseite gesenkten Hüfte nur wenig zur Standbeinseite zurückschwingt. Aus dem erhaltenen kaum hervortretenden rechten Halswender lässt sich eine Kopfdrehung nach links erschließen, wohl mit Blickrichtung auf den Gegenstand in seiner linken Hand.
4Ein wesentliches Merkmal dieser Statue ist der vollständig erhaltene linke Arm (Abb. 5). Die Hand des im Ellenbogen annähernd rechtwinklig gebeugten Unterarms ist derart geschlossen, dass sie einen Gegenstand, auf den Betrachter zuweisend, gehalten hat. Entsprechend der etwa ovalen, im hinteren Teil runden Handöffnung hatte dieser Gegenstand einen runden Griff.
6Nicht zu sehen ist die Unterseite der Plinthe (Abb. 6), die leicht konkav gearbeitet wurde. Bereits in der Antike war die Plinthe einmal gebrochen und wurde damals repariert[5]. Ob die konkave Ausarbeitung der Unterseite mit der Flickung zusammenhängt oder hier technische Gründe vorliegen, dank derer die Statue während der Aufstellung gleichsam stufenlos beliebig weit nach vorn oder hinten zu kippen war, lässt sich wegen fehlender Vergleiche nicht sagen.
7Ein Blick auf die Rückseite der Statue (Abb. 7) zeigt, dass die Bearbeitung der Figur nicht abschließend durchgeführt worden war. Die Figur stand demnach nicht frei in einem Raum, sondern vor einer Wand oder in einer Nische. So ist die Baumstammstütze rechts hinter der Statue nur grob gepickt, der Rücken des Jünglings nicht geglättet. In seinem linken Schulterblatt befindet sich ein großes flaches, annähernd rechteckiges Loch von 8 cm × 6 cm, wohl von einer antiken Flickung. Eine Dübelung für eine Befestigung an der Wand eines Gebäudes ist wegen der geringen Tiefe und der großflächigen Ausarbeitung ebenso auszuschließen wie die Anbringung eines Attributes am Rücken.
8Hinsichtlich ihrer Datierung hatte bereits der erste Bearbeiter der Funde aus Chimtou Theodor Kraus die zweite Hälfte des 2. Jhs. n. Chr. bis hin zum frühen 3. Jh. vorgeschlagen[6]. Die etwas füllige, aber wegen der breiten Schultern nicht kraftlos erscheinende Körperlichkeit sowie die Verschleifung anatomischer Details bestätigt diese Einordnung, auch wenn dieser Eindruck teilweise der stark polierten Oberfläche der Statue geschuldet sein mag. Zum Vergleich aus der nordafrikanischen Region bietet sich eine Apollonstatue aus Caesarea Mauretania an, die Christa Landwehr in severische Zeit (193–211 n. Chr.) datiert[7].
9Sowohl das Standmotiv wie auch der Aufbau der Statue erinnern an die Werke des Polyklet, des berühmtesten Bildhauers der hochklassischen Zeit. Scheint das Motiv auch seinem bekanntesten Werk, dem Doryphoros, entlehnt, so weisen die jugendliche Gestalt und auch die Kopfwendung zum Spielbein doch auf ein anderes Werk, dessen Entstehung zumeist der Schülergeneration Polyklets zugeschrieben wird: auf den nach dem heutigen Standort benannten Dresdner Knaben[8] (Abb. 8).
10Auf den ersten Blick entsprechen der Knabe aus Chimtou (Abb. 2) und der Dresdner Knabe (Abb. 8) motivisch einander im Stand, in der Fußstellung und in der Kopf- und Armhaltung. Der auffallendste Unterschied liegt beim Knaben aus Chimtou in der weniger ponderierten und damit unbewegten Haltung des Oberkörpers. Dazu kommt eine andere Aufteilung des Oberkörpers. Der Brustbereich erscheint kürzer, der Unterkörper wesentlich länger und gestreckter, die rechte Schulter ist angehoben[9]. Weitere Unterschiede werden vor allem an der rechten Standbeinseite deutlich. Hier folgt der Oberkörper des Dresdner Knaben der Ponderation mit einem sichtbaren S-Schwung, während der Oberkörper des anderen Knaben diesen Schwung nicht aufweist und beinahe unbeweglich erscheint. Gleichzeitig ist die Strukturierung des Körpers mit Rippenbogen und Bauchmuskulatur deutlich zurückgenommen, eher angedeutet angelegt, was dem Knaben ein weniger trainiertes Erscheinungsbild vermittelt. Zu dieser Beobachtung passt die veränderte Wiedergabe der Leistenpartie: Gegenüber der halbkreisförmig geschwungenen Hüften-Leiste-Linie des Dresdner Knaben, von der das Genital deutlich abgesetzt ist, läuft die Leiste am Chimtou-Knaben auf das Genital im spitzen Winkel zu, Genital und Bauch trennt eine flache Kerbe. Auch diese Änderung vermittelt ein im Vergleich zu dem älter erscheinenden Dresdner Knaben jüngeres Aussehen der Figur aus Chimtou.
11Eine Sichtung der zahlreichen Repliken, Wiederholungen und Umbildungen des Dresdner Knaben zeigt, wie unterschiedlich die römischen Kopisten dieses Vorbild umgesetzt haben. Der Statue aus Chimtou ähnelt am meisten eine der beiden Repliken aus Castelgandolfo Inv. 36407[10] (Abb. 9), die ihr auch in der leicht abgewinkelten Haltung des rechten Armes entspricht.
12Die deutlich reduzierte Ponderation kennzeichnet beide Statuen. Gerade dieser Vergleich offenbart aber auch einen gravierenden Unterschied zwischen den Repliken des Dresdner Knaben und dem Chimtou-Jüngling: Der Rest einer auffallend kräftigen Stütze am linken Oberschenkel an der Statue aus Castelgandolfo belegt, dass der linke Arm eine schwere Last gehalten hat. Darauf hatte zuletzt auch Christiane Vorster hingewiesen[11]. Dagegen kam der Knabe aus Chimtou ohne eine derartige Stütze aus, so dass er ein leichteres Attribut gehalten haben muss. Weitere Abweichungen von den Repliken des Dresdner Knaben zeigt auch der weiter ausgestellte und nur mit dem Innenrist den Boden berührende Spielbeinfuß des Knaben aus Chimtou, der zudem weniger zurückgesetzt ist.
13Schließlich unterscheidet sich auch der Aufbau des Oberkörpers in wesentlichen Details: Die Brust des Knaben aus Chimtou setzt deutlich höher an und ist weniger kräftig gebildet. So wirkt die Figur insgesamt schlanker, weniger athletisch. Damit entfernt sie sich vom polykletischen Aufbau des 5. Jhs. und nähert sich den schlankeren Jünglingsfiguren des 4. Jhs. v. Chr. an. Bei diesen vor allem für die Darstellung jugendlicher Götter entwickelten Stilformen findet sich eine vergleichsweise ähnliche weich fließende Bildung der Muskulatur. Das zeigt ein Blick auf das Bildnis des jugendlichen Apollon Sauroktonos[12] oder den Jüngling von Marathon[13], deren Körper entsprechende verschliffene Oberflächen wiedergeben. Verstärkt wird dieser Eindruck beim Knaben von Chimtou noch durch die glänzende Politur.
14Mit diesen Beobachtungen passt der Knabe nicht in das von Georg Lippold definierte Schema eines reproduzierten griechischen Vorbildes[14], sondern er gehört zu den Skulpturen, die in den letzten Jahren als Konzeptfigur[15] oder Bildschema[16] bezeichnet werden. Es handelt sich um eine kaiserzeitliche Schöpfung mit mehrfach überarbeiteten und abgeänderten Rückgriffen auf bekannte Vorbilder wie im vorliegenden Fall auf den Dresdner Knaben in Kombination mit anderen, spätklassischen Jünglingsfiguren.
15Wen stellt nun der Knabe dar? Da der Kopf nicht erhalten ist, bleibt unbekannt, ob es sich um eine Porträt-Statue oder um eine ideale Jünglingsfigur handelt. Eine Deutung als Bildnis eines jugendlichen Gottes lässt sich ausschließen, da für die in Frage kommenden Götter Apoll, Dionysos oder Eros keine Anhaltspunkte vorliegen. In diesem Fall würden sich Reste von langen Haaren auf den Schultern des Knaben finden. Anhaltspunkte bietet im Grunde nur das Attribut, das der Jüngling einst in seiner linken Hand gehalten hat. Der in die fast geschlossene Hand geschobene Griff hatte eine runde Form, der Gegenstand wies auf den Betrachter (Abb. 5). Somit kann es sich nicht um ein Schwert gehandelt haben. Von der Handöffnung her bietet sich am ehesten eine Strigilis an, wenngleich der Knabe aus Chimtou auch nicht gerade betont athletisch dargestellt ist.
16Überraschend ist das Halten einer Strigilis in der Linken nicht. Seit der zweiten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. zeigen attische Grabreliefs Athleten mit Strigilis in der Hand. So wird der verstorbene Eupheros mit einer Strigilis in seiner linken Hand auf einer attischen Grabstele wiedergegeben, die aufgrund der im Grab gefundenen Keramik um 430/320 datiert wird[17]. In dieser Zeit entstand auch das Vorbild des Dresdner Knaben. Bei der Entdeckung des Eupheros-Grabes im Jahr 1964 lag neben der linken Hand des damals noch vorhandenen Skeletts eine Strigilis wie auch eine weitere neben dem linken Bein, neben der rechten Hand befanden sich ein Kantharos und ein Salznapf[18]. Auch auf einem Grabrelief aus Chalkis[19] hält ein Ephebe seine Strigilis in der linken Hand, während die rechte einen Vogel hält.
17Gut zu einem Athleten passt auch der auf Hochglanz polierte Körper des Knaben aus Chimtou[20]. Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Figur im Zuge der Neuaufstellung eingewachst wurde, was den Glanz heute noch steigert. Er spiegelt in wörtlichem Sinne den eingeölten Körper eines Athleten wider, der sich auf einen Wettkampf vorbereitet hat. Gleichzeitig wird die blendende Schönheit des Jugendlichen gleichsam glänzend vor Augen geführt. Derart fein polierte Statuen und Statuetten sind bisher für Bildnisse des Apoll oder des Dionysos belegt[21], nicht hingegen für Athletenfiguren. Eine Sichtung verschiedener kaiserzeitlicher Athletenstatuen führt zu einem verblüffenden Ergebnis. Zwar sind in der Publikation von Federico Rausa »L’immagine del vincitore: L’atleta nella statuaria greca dall’eta arcaica all’ellenismo«[22] zahlreiche Athletenstatuen aufgeführt, doch zeigt kaum eine der dort abgebildeten Statuen den Glanz einer Politur. Die beiden einzigen dort aufgeführten polierten Figuren, ein ölausgießender Athlet und ein Satyr mit Weinschlauch, befinden sich in der Dresdner Skulpturensammlung[23]. Interessanterweise weisen die Autorinnen und Autoren des Skulpturenkatalogs von Dresden darauf hin, dass die Oberflächen aller dort befindlichen Statuen modern überarbeitet wurden oder bei der Reinigung auch tiefgründiger verändert worden sind. Es ist zu vermuten, dass derartige Überarbeitungen zahlreiche Skulpturen und nicht nur Athletenstatuen betreffen, so dass eine Einschätzung und Beurteilung der antiken Oberfläche eher selten vorgenommen werden kann. Unter diesen Umständen gewinnt die Statue aus Chimtou an Bedeutung auch hinsichtlich des Erhalts der antiken Oberfläche.
18Der Fundort im Heiligtum der Dii Mauri bietet für die Deutung des Knaben keinerlei Hinweise[24]. Ob die Figur überhaupt einstmals hier aufgestellt war, ist aufgrund der eher bescheidenen Ausstattung dieses Heiligtums mehr als fraglich. Die Niederlegung in dem bassinähnlichen Bereich des Heiligtums deutet auf eine bewusste Deponierung der sehr wertvollen Statue mit dem Ziel, sie später einmal wieder freizulegen und nach einer Restaurierung auch wieder aufzustellen. Der Ort dieser Aufstellung könnte daher eher die nördliche Halle des auf der Kuppe des Berges liegenden Saturn-Tempels gewesen sein. Sicher kein Zufall ist die zeitliche Übereinstimmung der Entstehung der Statue in severischer Zeit mit der »gründlichen Restaurierungs- und Erweiterungsphase« des Baal-Saturn-Tempels, die inschriftlich unter dem severischen Procurator Amyrus erfolgte[25].
19Eine derartige Schlussfolgerung bietet sich an, da am Fundort der Statue zusammen mit ihr zahlreiche zerschlagene Architekturfragmente aus dem Saturn-Heiligtum lagen. Beim Verschleppen bzw. Ziehen der Figur könnten die Abriebspuren oberhalb des rechten Knies entstanden sein[26]. Allerdings wurden weder am Fundort im Heiligtum der Dii Mauri noch im Temenos des nahen Saturn-Tempels Basen für die Aufstellung von Statuen gefunden.
20Die Zahl von Marmorskulpturen aus Chimtou ist äußerst gering. Neben dem hier vorgestellten Knaben existiert bisher nur ein von Paul Scheding als Replik der Satyrgruppe Ludovisi erkannter Kopf[27]. Indessen fanden sich in Chimtou verschiedene Kalksteinöfen, in denen sicher auch zahlreiche Skulpturen für eine Verwendung als Mörtel ›recycelt‹ worden sind[28].
21Die Bedeutung des Knaben von Chimtou erschließt sich vor allem im Hinblick darauf, dass keine weiteren derartigen Athletenstatuen in den nordafrikanischen Zentren Karthago oder Leptis Magna entdeckt wurden. Eine Ausnahme bildet lediglich Caesarea (Cherchell)[29], wo sich ein Torso eines entsprechenden Knaben nachweisen lässt.
Abstracts
Zusammenfassung
Der Knabe aus Chimtou
1974 wurde bei den Ausgrabungen in Chimtou nordwestlich von Tunis im Heiligtum der Dii Mauri die Marmorstatue eines nackten stehenden Jünglings entdeckt. Es handelt sich um eine Skulptur aus severischer Zeit mit Rückgriffen auf bekannte Vorbilder wie den sog. Dresdner Knaben in Kombination mit anderen spätklassischen Jünglingsfiguren. Aufgrund der Handhaltung des linken Armes lässt sich eine Strigilis ergänzen, die die Statue als Athleten ausweist. Zu diesem passt die auf Hochglanz polierte Oberfläche. Wahrscheinlich war dieser ursprünglich in einer der Hallen des auf der Bergkuppe gelegenen Saturn-Tempels aufgestellt.
Schlagworte
Jüngling, Athlet, Dresdner Knabe, Africa Proconsularis, Simitthus
Abstract
The Youth from Chimtou
The statue of a nude standing male youth was found in 1974 in the sanctuary of the Dii Mauri at Chimtou in northwestern Tunisia. It is reminiscent of the »Dresden Youth«, but it is an original product of the Severan period, and represents a boy in his teenage years. Its highly polished surface is remarkable, since ancient surfaces are rarely preserved. He appears to have held a strigil in his left hand, and was therefore probably an athlete. The statue was most likely originally set up near Chimtou’s temple of Saturn.
Keywords
youth, athlete, Dresdner Knabe, Africa Proconsularis, Simitthus
issue-summary
AA 2019/2 • 362 pages with 213 illustrations
citation-guideline
H.-H. von Prittwitz und Gaffron, Der Knabe aus Chimtou, AA 2019/2, § 1–21, https://doi.org/10.34780/aa.v0i2.1010
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