Typesetting
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Geschlechtswechsel in der antiken Skulptur
Einleitung
1Jeder, der sich mit der Rezeption griechischer Skulptur in der römischen Kaiserzeit befasst, ist mit dem Phänomen vertraut, dass bei bestimmten Kopien ein und desselben statuarischen Typus das Thema der Darstellung nicht mit demjenigen des Vorbilds übereinstimmt. Besonders leicht als ›Umdeutungen‹ zu identifizieren sind römische Skulpturen dann, wenn vereinzelt ein sonst nicht als Attribut des statuarischen Typus bezeugter Teil der Darstellung, etwa eine Kopfbedeckung, hinzutritt[1], oder wenn der Kopf des Vorbilds durch einen Porträtkopf ersetzt worden ist[2]. Schon schwieriger wird die Bestimmung des originären Inhalts dann, wenn sich bei einem statuarischen Typus eine bestimmte inhaltliche Änderung mehrfach nachweisen lässt[3]. Kaum mehr möglich ist die Benennung eines statuarischen Typus schließlich dann, wenn es gar keine inhaltsgleichen Repliken gibt, was beispielsweise bei den drei erhaltenen Kopien bzw. Umdeutungen des sog. Poseidon Typus Krakau der Fall ist[4]. Andererseits bestehen Schwierigkeiten auch darin, Umdeutungen überhaupt als solche zu erkennen, also Einzelstücke auch dann einem bestimmten statuarischen Typus zuzuweisen, wenn sie gegenüber der Hauptüberlieferung gravierende Abweichungen aufweisen. Dies zeigt anschaulich der Fackelträger aus der Gruppe von San Ildefonso, bei dem Kopf und Körper auf unterschiedlichen Vorbildern fußen. Hier ist es Geominy erst 2004, also etwa 400 Jahre nach der Entdeckung der Skulptur, gelungen, die Beine und den Körper als eine um etwa 6–7 cm verkleinerte Wiederholung des Eros Typus Centocelle zu identifizieren, nachdem man zuvor die merkwürdigsten typologischen Bestimmungen, bis hin zu einer Interpretation als Variante des Doryphoros[5], vorgeschlagen hatte, während der Kopf der Statue immerhin schon vor 100 Jahren als verkleinerte Wiederholung des polykletischen Doryphoros erkannt werden konnte[6].
2Im Folgenden soll vornehmlich von einigen lange bekannten Skulpturen die Rede sein, bei denen zwei Faktoren, das Genus und die Bekleidung, die typologische Bestimmung verhindert und damit den Blick dafür verschlossen haben, wie ihre Bildhauer vorgegangen sind. Zu besprechen sind außerdem Skulpturen, die entweder nur partiell oder aber erst in der Spät- oder in der Nachantike in eine Darstellung anderen Geschlechts transformiert worden sind.
Artemis im Typus des Dionysos Baiae
3Bei dem bis zum Scheitel 1,28 m messenden Dionysos, der 1981 in Baiae gefunden worden ist (Abb. 1)[7], erstaunte lange Zeit die Tatsache, dass man außer dem namengebenden Stück lediglich eine Wiederholung, die deutlich kleiner ist (Berlin, s. u.), sowie eine ziemlich ähnliche und nur geringfügig größere Statue vom gleichen Fundort (Baiae II, s. u.) kannte. Im Rahmen einer Durchsicht der einschlägigen materiellen Überlieferung gelang es, nicht weniger als elf maßgleiche Repliken und außerdem eine Umdeutung als Apollon sowie etliche verkleinerte Wiederholungen, darunter eine vollständig erhaltene Bronzestatuette (Apollon), zutage zu fördern. Der Dionysos Typus Baiae ist damit einer der am besten überlieferten statuarischen Typen des Dionysos überhaupt.
4Maßgleiche Repliken der in Baiae gefundenen Statue sind eine kopflose Statue in Dion (mit Fell)[8], ein 86 cm hoher, nie ergänzter Torso in Magdeburg (Abb. 3)[9], eine kopflose Statue in Patras (Abb. 4)[10], zu Statuen des Bacchus vervollständigte Torsi in Florenz[11], in Paris[12] und in der Galleria Colonna[13], ein mit einem neuzeitlichen Kopf ergänzter Torso unbekannten Aufbewahrungsorts[14] sowie eine Kopfreplik in Kopenhagen (Abb. 5)[15], deren bildhauerische Qualität diejenige des Kopfes der Statue in Baia übertrifft[16]. Bei einem derestaurierten Torso im Garten der Villa Doria-Pamphilj [17] ist die Frisur verändert: Anstelle der lang herabfallenden Locken, die bei jeder Kopie in anderer Weise disponiert sind – man vergleiche die Rückansichten der Statue in Baia und des Torsos in Magdeburg –, fallen hier die Enden einer Haarbinde auf die Schultern herab. Eben dies ist auch bei zwei weiteren Torsi der Fall, die außerdem dadurch von der Hauptüberlieferung abweichen, dass sie ein Tierfell tragen, das beide Schultern bedeckt: Es handelt sich um einen Torso im Museo Gregoriano Profano[18] sowie um einen zu einer Statue vervollständigten und ehemals in der Villa Doria Pamphilj aufbewahrten Torso, der verschollen ist[19]. Beide sind nicht als Darstellungen des Dionysos gesichert; es kann sich auch um Umdeutungen als Satyrn handeln[20]. Sicher als Umdeutung zu identifizieren ist eine 1,36 m hohe Statue in Sankt Petersburg[21]: Hier war höchstwahrscheinlich Apollon (mit Instrument?), mit einer Chlamys als Kopistenzutat, dargestellt[22]. Den nicht zugehörigen Kopf, an dem die Kalotte ergänzt ist, hat Waldhauer im Jahr 1912 als eine verkleinerte Wiederholung der Artemis Typus Ariccia bestimmen können[23]; die antike Kopfhaltung der Statue ist nicht zu ermitteln, da der Hals zur Gänze neuzeitlichen Ursprungs ist.
5Mit Sicherheit zum Typus zu zählen ist außer den Repliken und der bzw. den Umdeutung(en) eine verkleinerte Umdeutung als Apollon in Form einer ohne Basis 20 cm großen Bronzestatuette, die im Lararium der Casa delle pareti rosse in Pompeji gefunden worden ist (Abb. 6)[24]. Die Verbindung der Bronzestatuette mit dem statuarischen Typus ist insofern von Interesse, als sich Verkleinerungen im Statuettenformat, die ziemlich genau an großplastischen Vorbildern orientiert sind, vergleichsweise selten nachweisen lassen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang eine 24 cm hohe Bronzestatuette im statuarischen Typus der Amazone Sciarra[25], eine 28 cm hohe Bronzestatuette im statuarischen Typus des Tiber-Apollon[26], eine 51 cm hohe Bronzestatuette im statuarischen Typus des Apollon Lykeios[27] und die berühmte Bronzestatuette des sog. Narkissos [28] aus Pompeji, die immerhin 59 cm misst und auf einem bislang nur schlecht erschlossenen, großplastisch lediglich durch zwei Kopien in Cherchel[29] und Florenz[30] bezeugten Typus fußt.
6Bei einer Reihe von unterlebensgroßen Torsi besteht zwar eine große Ähnlichkeit zum Dionysos Typus Baiae, doch lässt sich in Ermangelung der Kenntnis des Kopfes und des Standmotivs nicht sicher entscheiden, ob alle diese Torsi ebenso wie das um etwa ein Drittel verkleinerte Statuenoberteil in Berlin[31] zu verkleinerten Wiederholungen des Typus gehört haben: ein derestaurierter Torso in Privatbesitz[32], Torsi in Genf und in Karlsruhe[33], ferner der Apollon mit der Haut des Marsyas im sog. Museo Torlonia (Nr. 463) und der bis zum Scheitel 1,01 m messende Pseudo-Hermaphrodit in der Lady Lever Art Gallery in Port Sunlight[34]. Nicht leicht zu beurteilen ist außerdem ein zweiter Dionysos aus Baiae[35], der gegenüber dem anderen dort gefundenen Dionysos durch einen Kranz im Haar, Sandalen und Fell sowie, was hervorzuheben ist, im Hinblick auf die Haltung von Armen und Kopf und außerdem im Hinblick auf das weiter nach außen gedrehte Spielbein abweicht. Berücksichtigt man, wie genau Standmotiv und Kopfhaltung bei den Repliken des Typus übereinstimmen[36], erscheint es nicht angebracht, hier so etwas wie eine ›freie Kopie‹, die vielleicht nicht einmal das Stützmotiv des rechten Arms zeigte, zu postulieren. Die Statue wird vielmehr einem eigenständigen, den Dionysos Typus Baiae um wenige Zentimeter überragenden Typus zuzurechnen sein, den ansonsten nur eine Kopfreplik in der Villa Albani bezeugt[37].
7Als eine weitere Umdeutung des Dionysos Typus Baiae ist dagegen eine 1,34 m messende Statue in Boston zu bestimmen (Abb. 2)[38], da bei ihr die Größe und alle Haltungsmotive einschließlich der starken Kontraktion der linken Körperseite und der Position des Spielbeinfußes genau mit dem Vorbild übereinstimmen[39]. Im Fall der Statue in Boston hat ein in der römischen Kaiserzeit tätiger Bildhauer das Vorbild allerdings in eine weibliche Darstellung, wohl in eine Artemis, transformiert, die sich vom statuarischen Typus außerdem dadurch unterscheidet, dass sie mit Chiton und Mantel bekleidet ist. Während der Schultermantel als Kopistenzutat geläufig – betroffen sind vor allem Repliken des Meleager – und beim Dionysos Typus Baiae auch durch die Apollon-Umdeutung in Sankt Petersburg bezeugt ist, mutet das ›Anziehen‹ eines nackten Körpers ungewöhnlich an. In der kaiserzeitlichen Skulpturenproduktion ist jedoch auch das ›Anziehen‹ eines nackten oder teilweise bekleideten griechischen Vorbilds mehrfach bezeugt, und zwar vornehmlich im Zusammenhang mit der Herstellung von Porträtstatuen. So hat man etwa für etliche Panzerstatuen auf den statuarischen Typus des Hermes Richelieu zurückgegriffen[40], ›halbbekleidete‹ Statuen der Aphrodite (Typus Capua, Typus ›Marina‹ etc.) häufig mit einem Untergewand ausgestattet oder nackte Statuen der Venus mit einem Mantel versehen, mit dessen Drapierung der Pudica-Gestus betont werden konnte, was beispielsweise bei der sog. Venus Felix der Fall ist[41]. Das beste Beispiel für das Anziehen eines ursprünglich nackten Körpers außerhalb der Verwendung in der Porträtplastik ist die Elektra aus der Orest-Elektra-Gruppe in Neapel, welcher der statuarische Typus des Pylades zugrunde liegt, was schon Lippold erkannt hat[42], was allerdings in der neueren Forschung wieder in Vergessenheit geraten ist[43]. Mit der Artemis in Boston stimmt die Statue der Elektra auch darin überein, dass das Geschlecht des Vorbilds verändert worden ist. Im Fall der Elektra ist das statuarische Vorbild außerdem in noch stärkerem Maß als bei den Orest-Pylades-Gruppen verkleinert worden, um die Schwester nicht größer als ihren Bruder erscheinen zu lassen[44].
8Angesichts der erstaunlichen Verbreitung und der vielen ›Einsatzmöglichkeiten‹ des Dionysos Typus Baiae liegt die Annahme nahe, dass ein in Dionysopolis (heute Baltschik) am Schwarzen Meer gefundener Torso des Dionysos (Abb. 7), zu dem bislang keine Replik bekannt geworden ist, zu einer seitenvertauschten (!) Kopie gehört hat, die außerdem um einen auf der Schulter aufliegenden und um den Unterleib geführten Mantel bereichert ist[45]. Die Größe und das Stützmotiv stimmen genau überein[46]; die Position des nur im Ansatz erhaltenen Spielbeins lässt erwarten, dass das Standmotiv spiegelverkehrt demjenigen des Dionysos Typus Baiae entsprach[47].
9Auch wenn die erheblich erweiterte Kenntnis der Überlieferung des Dionysos Typus Baiae keine Handhabe bietet, die Position dieses statuarischen Typus in der Geschichte der griechischen Kunst genauer zu bestimmen als bisher, spricht die umfangreiche und vielfältige Überlieferung doch dafür, für das Original eine Entstehung in ›vorbildhafter‹ Zeit anzunehmen. Eine ziemlich ähnliche Frisur lässt sich bereits im zweiten Viertel des 4. Jhs. v. Chr., beim Apollon Sauroktonos, nachweisen[48]. Der gegenüber diesem Apollon insbesondere in der Gestaltung des Gesichts freier erscheinende Dionysos Typus Baiae mag daher ein opus nobile überliefern, das in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. geschaffen worden ist[49].
Hirtin im Typus des Paniskos
10Die Dresdner Hirtin (Abb. 8)[50] ist eine weibliche Umdeutung des berühmten Paniskos[51], was daraus hervorgeht, dass außer der Größe auch sämtliche Haltungsmotive mit diesem Typus übereinstimmen (Abb. 9): Der Kopf war – dies zeigt der etwas stärker hervortretende rechte Kopfwender – ursprünglich nach links gedreht, was auch der im 17. Jahrhundert tätige Ergänzer, Baldassare Mari, erkannt hat. Dem Typus entsprechend dürfte der rechte Arm gesenkt, der linke im Ellbogen angewinkelt gewesen sein, was Mari bei der Restaurierung gleichfalls berücksichtigt hat[52]. Auch die Position des Spielbeinfußes wird, wie die Profilansicht des linken Knies zu erkennen gibt, mit derjenigen des Paniskos übereingestimmt haben. Die Hirtin weicht im Genus und darüberhinaus vornehmlich in zwei Punkten vom Vorbild ab. Zum einen durch das Fell, eine Zutat, die vor allem bei Umdeutungen klassischer Vorbilder als Dionysos oft bezeugt ist[53] – eine besonders raffinierte Drapierung des Fells zeigt der Dionysos aus der Villa Hadriana , dessen Zugehörigkeit zum Typus des sog. Diskophoros erst kürzlich erkannt worden ist[54] –, und zum anderen durch den Chiton. Der Kopf der Hirtin könnte ähnlich wie derjenige von Umdeutungen des Paniskos als Dionysos ausgesehen haben, also etwa so wie ein Kopf in Dessau[55] oder wie ein bislang nicht mit dem Paniskos in Verbindung gebrachter Kopf im Palazzo Ducale in Mantua[56].
11Die Hirtin und eine gleichfalls in Dresden befindliche Umdeutung des Paniskos als Dionysos stammen zwar beide aus der Sammlung Chigi und stimmen auch darin überein, dass sie ein Fell tragen – bei anderen Umdeutungen des Paniskos als Dionysos fehlt das Fell[57] –, bildeten in der Antike aber sicherlich kein Ensemble: Während die Hirtin in die frühe Kaiserzeit datiert wird, ist für den Dionysos mit gutem Grund eine Datierung in die zweite Hälfte des 2. Jhs. n. Chr. vorgeschlagen worden[58].
12Zu Schöpfungen wie derjenigen der Hirtin kam es offenbar dann, wenn Bildhauer mit der Aufgabe konfrontiert waren, eine Statue anzufertigen, für deren Kreation das einschlägige Repertoire an Abgüssen griechischer Originale nichts inhaltlich Passendes anzubieten hatte. Durch die Orientierung an ›klassischer‹, einem Werk ganz anderen Inhalts entlehnter Formensprache ließ sich auch bei einer Statue ungewöhnlichen Sujets der Eindruck erwecken, dass sie auf einem Vorbild aus der Blütezeit der griechischen Kunst fußt[59].
Bacchantin im Typus des Dionysos Thermenmuseum 74026
13Außer der Artemis in Boston und der Hirtin in Dresden gibt es noch eine dritte weibliche Einzelfigur, deren Bildhauer auf einen statuarischen Typus männlichen Geschlechts zurückgegriffen hat. In einem römischen Skulpturendepot, dem sog. Museo Torlonia, befindet sich eine als Bacchantin ergänzte Statue[60], die erstmals um 1630 in der Sammlung des Marchese Vincenzo Giustiniani bezeugt ist (Abb. 10). Ihre typologische Bestimmung ist bislang deshalb unterblieben[61], weil die Erstergänzung, auf der auch die Abbildungen bei Clarac und Reinach fußen, anders als die zweite, im 19. Jahrhundert erfolgte Restaurierung dem antiken Bestand nicht gerecht geworden ist[62], und weil der statuarische Typus, der Dionysos zeigt, trotz weiter Verbreitung in der Forschung fast gänzlich unbekannt geblieben ist[63]. Es sei hier daher ebenso wie bei dem eingangs besprochenen Dionysos Typus Baiae zunächst ein Überblick über die Überlieferung des Typus gegeben.
14Bekannt sind bislang nicht weniger als zehn Repliken, darunter eine Umdeutung als Porträt (!), sowie zwei Wiederholungen in Form des Kopfes einer um etwa ein Drittel verkleinerten Statuette in Philadelphia[64] und in Form einer 18 cm hohen Bronzestatuette aus Pompeji[65]. Die Gruppe der Repliken umfasst eine vollständig erhaltene und bis zum Scheitel 1,24 m messende Dionysos-Statue im Hof des Thermenmuseums in Rom (Abb. 11. 12)[66], das Unterteil einer in Baiae gefundenen Dionysos-Statue in Neapel[67], eine Umdeutung als Porträt (mit Gewandbausch auf der linken Schulter) in der Centrale Montemartini in Rom[68], eine kopflose Statue aus Leptis Magna in Tripolis (mit Fell)[69], einen als Bacchus ergänzten Torso in Florenz[70], einen als Apollon mit Kithara ergänzten Torso in Chatsworth[71], einen Torso in Providence (mit langen Locken)[72], einen Torso aus Ephesos in Wien (mit langen Locken und mit Fell)[73], einen Torso in Privatbesitz[74] sowie einen Kopf in Djemila[75].
15Berücksichtigt man, dass etliche Repliken durch Kopistenzutaten, also entweder durch lang auf die Schultern herabfallende Locken oder durch ein um den Körper gelegtes Fell, bereichert worden sind, nimmt es nicht Wunder, dass ein in der römischen Kaiserzeit tätiger Bildhauer auch vor einer Geschlechtsumwandlung des Dionysos Typus Thermenmuseum 74026 nicht Halt gemacht hat. Wie die Bildhauer der Bostoner Artemis und der Dresdner Hirtin hat der Schöpfer der Bacchantin Torlonia das Vorbild, dessen Größe beibehalten worden ist[76], außerdem durch die Bekleidung verändert. Bei der Bacchantin tritt zusätzlich zum Untergewand noch ein zweites Element hinzu, ein leichter Mantel, der die Beine umfängt und mit einem Ende auf der linken Schulter ruht. Da der Kopf und beide Arme neuzeitlichen Ursprungs sind, lässt sich in der Frage, ob die Bacchantin ursprünglich in allen Haltungsmotiven mit dem statuarischen Typus übereingestimmt hat, keine Sicherheit erlangen. – Problematisch ist die Datierung des Originals, da alle Haltungsmotive und auch die Gestaltung des Kopfes ab der zweiten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. in der griechischen Skulptur vorstellbar sind. Ich sehe kein Kriterium, das den Ausschlag für die Datierung in einen bestimmten Abschnitt der hellenistischen Zeit geben könnte[77].
Weitere Geschlechtswechsel
16Auf einem statuarischen Vorbild männlichen Geschlechts wird neben den besprochenen Werken auch ein weiblicher Torsetto in Bologna fußen[78], dessen Haltungsmotiv demjenigen entspricht, das durch mehrere statuarische Typen des 4. Jhs. v. Chr. bezeugt ist, die Athleten beim Ausgießen von Öl zeigen[79]. – Noch seltener als weibliche Umdeutungen männlicher Vorbilder lassen sich Umdeutungen im Gegensinn nachweisen. Anzuführen sind zwei Umdeutungen, die in verkleinerter Form auf zwei jeweils hochberühmten statuarischen Typen basieren.
17Ein erstmals im Jahr 1650 von Iacomo Manilli in der Villa Borghese erwähnter und heute im Louvre aufbewahrter Apollon[80] war als Kitharöde mit einer Kithara, die auf einer weiblichen Herme postiert ist, ergänzt. Aus dem Haltungsmotiv und aus der Manteldrapierung geht hervor, dass es sich bei der Statue um eine verkleinerte Umdeutung der Aphrodite Typus Capua handelt. Das ursprüngliche Motiv des Apollon lässt sich nicht rekonstruieren; es gibt keinen Hinweis darauf, dass er wie so viele Adaptionen der Aphrodite Typus Capua (s. u.) zu einer Gruppe gehört hat. – Eine im Attideum in Ostia gefundene kopflose Statuette ist als verkleinerte Umdeutung der sog. Aphrodite Euploia, eines 1,25 m hohen und überaus verbreiteten statuarischen Typus, als Attis zu interpretieren[81]. Die ursprünglich wohl knapp 70 cm messende Statuette ist von besserer Qualität als die Bildwerke, die C. Cartilius Euplus in das Attideum gestiftet hat, dürfte aber aus der gleichen Zeit wie jene, der zweiten Hälfte des 2. Jhs. n. Chr., stammen. Dass für den statuarischen Typus der dem Cognomen des Cartilius entsprechende Beiname Euploia[82] verwendet wird, ist anscheinend nur ein Zufall.
Fragliches
18Eine bekleidete, von Oehmke in das frühe 2. Jh. n. Chr. datierte Statue der Aphrodite in Dresden, die sich mit dem linken Ellbogen auf einen kleinen Priapos stützt (Abb. 13)[83], stimmt in der Größe, die ursprünglich bei knapp 1,20 m lag, mit dem Satyrknaben mit Schweinsfell (Abb. 14)[84] überein. Dem verbreiteten statuarischen Typus dieses Satyrknaben, der auf ein Original späthellenistischer Zeit zurückgeht und sogar auf einem Sarkophag abgebildet worden ist[85], wird die Aphrodite auch in allen Haltungsmotiven entsprochen haben. Der falsch ergänzte Spielbeinfuß[86] war der Position des Knies zufolge ursprünglich mit der Spitze zum rechten Fuß hin ausgerichtet und der verlorene Einsatzkopf war sicher zum Priapos gedreht. Die Bestimmung der Dresdner Statue als weibliche Umdeutung des Satyrknaben kann aber nicht als sicher gelten, weil bereits in späthellenistischer Zeit mehrere, im Hinblick auf die Bekleidung untereinander divergierende Statue(tte)n der Aphrodite entstanden sind, deren Haltung sich kaum von derjenigen des Satyrknaben mit Schweinsfell unterschieden haben dürfte[87]. Die Statue in Dresden kann daher im Prinzip auch auf einer weiblichen Statue aus späthellenistischer Zeit fußen.
19Auf einen der bedeutendsten statuarischen Typen des 5. Jhs. v. Chr., auf denjenigen des Doryphoros, hat Sturgeon die im Theater von Korinth entdeckte Statue einer Amazone oder der Artemis, eine Arbeit antoninischer Zeit, bezogen[88]. Da die Größe nicht mit derjenigen des Doryphoros übereinstimmt[89], und da die Tatsache, dass beide Arme und der Kopf gesondert gearbeitet waren, dafür spricht, dass die Arme stärker vom Rumpf gelöst waren, als es beim Doryphoros der Fall ist[90], lässt sich die Verbindung mit dem opus nobile nicht aufrecht erhalten. – Der Bildhauer einer großplastischen Gruppe im Louvre, die Silenos im Arm eines Triton zeigt, hat offenbar nur ein Motiv späthellenistischer Zeit – Triton mit Nereide im Arm – und keinen statuarischen Typus aufgegriffen[91].
Geschlechtswechsel bei Gruppenfiguren
20Das ›Spielen‹ mit dem Genus berühmter Vorbilder setzt in hellenistischer Zeit ein, und zwar im Rahmen der Schöpfung von Skulpturengruppen. Im 1. Jh. v. Chr. ist es der Apollon Sauroktonos des Praxiteles, der einer Geschlechtsumwandlung unterzogen wird: Zusammen mit einer Weiterbildung des Ares Typus Borghese, aus dem ein bekleideter Herakles geworden ist, bildete eine weitgehend nackte Omphale eine Gruppe, die durch zwei maßgleiche Kopien, eine in Neapel (Inv. 6406, ex Farnese) und eine in Kopenhagen, bezeugt ist[92]. Auch wenn vom linken Knie der Neapler Omphale nur ein kleines Stück erhalten ist, so dass sich nicht sicher sagen lässt, ob die Position des Fußes mit derjenigen des Apollon Sauroktonos übereinstimmte, ist davon auszugehen, dass dieser statuarische Typus, in der Größe um ein Drittel reduziert, als Vorbild fungierte[93]. Was den Ausschlag für die Auswahl der statuarischen Vorbilder gab, lässt sich nicht ermitteln. Dass formale Gründe eine Rolle spielten, kann deshalb als wahrscheinlich erachtet werden, weil der Apollon Sauroktonos und der Ares Borghese auch später tätigen Bildhauern für die Schöpfung von Zweifigurengruppen als geeignet erschienen. Während der Körper des Sauroktonos für den Angelehnten der Gruppe von San Ildefonso Verwendung fand[94], erfreute sich vor allem und vornehmlich im 2. Jh. n. Chr. die Kombination des Ares Typus Borghese mit der Aphrodite Typus Capua besonderer Beliebtheit. Diese Kombination von statuarischen Vorbildern unterschiedlicher Epochen ist jedes Mal ex novo, unter Zuhilfenahme von Abgüssen der beiden griechischen Originale, realisiert worden; die wiederholt vertretene Annahme, dass den Venus-Mars-Gruppen eine augusteische Gruppenschöpfung zugrundeliege[95], ist dahingehend zu korrigieren, dass die Zusammenstellung der beiden Figuren erstmals in augusteischer Zeit erfolgt sein könnte[96].
Geschlechtswechsel bei Köpfen
21Anders als bei den bisher besprochenen Stücken ist bei einer weiteren Skulptur ausschließlich der Kopf von der Geschlechtsumwandlung betroffen. Eine in Butrint entdeckte und als Einsatzkopf gearbeitete Kopfreplik des Apollon Typus Antium weist eine gegenüber dem Original veränderte Drehung auf; sie war in einen weiblichen, der Nemesis von Rhamnus nahestehenden, aber deutlich kleineren Körper eingesetzt, der 1943 zerstört worden ist[97]. Ähnlich mag der Bildhauer einer Einsatzbüste in San Antonio[98], einer Variante des sog. Orpheus[99], verfahren sein, der die Frisur gegenüber dem Vorbild deutlich verändert hat. Dem Einsatzzapfen zufolge war die Büste in einen bekleideten Körper eingelassen, der vielleicht eher zu einer weiblichen als zu einer männlichen Figur gehört hat. Nicht sicher zu bestimmen ist das Geschlecht einer Herme in Annecy (Abb. 15). Der Bildhauer dieser Herme hat einen in der Regel als männlich angesehenen Kopftypus, der u. a. durch den Bronzejüngling von der Via dell’Abbondanza bezeugt ist, um lang herabfallende Lockensträhnen bereichert und mit einer Brustpartie kombiniert, die Zanker als weiblich interpretiert hat[100].
Sekundäre Geschlechtswechsel
22Eine in Istanbul aufbewahrte Statue, deren Einsatzkopf verloren ist, hat schon Mendel zutreffend als männlich bestimmt[101]. Das statuarische Vorbild dieser Statue ist in einem von Deterling im Jahr 2014 konstituierten weiblichen Typus zu erkennen[102], den eine in Nysa gefundene Statue in Aydın und eine verkleinerte Wiederholung in Oxford bezeugen[103]. Die Verwendung eines weiblichen Typus für das Porträt eines Mannes – eine mythologische Darstellung scheidet sicher aus – wird im Fall der Statue in Istanbul auf eine sekundäre Umarbeitung zurückzuführen sein. Erst im Rahmen der Umarbeitung hat ein Steinmetz das für den Typus charakteristische Faltenspiel im Bereich der Brust reduziert und den Chiton verkürzt, wobei er die rückwärtige Partie des untersten Chiton-Abschnitts belassen hat. Der wahrscheinlich aus einem Block mit der Statue gearbeitete Kopf ist durch einen zum Einsetzen in den Rumpf gefertigten Kopf ausgetauscht worden. Die sekundäre Verwendung von weiblichen Körpern für Por- trätstatuen männlichen Geschlechts ist auch sonst, beispielsweise in Kyrene, bezeugt[104].
Nachantike Geschlechtswechsel
23Auch in der Neuzeit lässt sich das Phänomen des Geschlechtswechsels nachweisen, und zwar im Zusammenhang mit der falschen Ergänzung antiker Fragmente. So haben beispielsweise diverse Köpfe des Apollon, etwa solche des Apollon Typus Antium, für die Vervollständigung weiblicher Torsi Verwendung gefunden. Ein besonders anschauliches und zugleich wenig bekanntes Beispiel ist die seit 1679 in der Loggia der Villa Chigi-Zondadari in Cetinale bei Siena bezeugte Statue der Artemis, deren Ergänzer nicht namentlich bekannt ist (Abb. 16)[105]. Erst im Jahr 1875 ist außerdem eine auf dem Esquilin gefundene Statue der Hygieia mit einer Kopfreplik des Apollon Lykeios vereinigt worden, was man in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder rückgängig gemacht hat[106].
24Im Fall des Dionysos Typus Altemps-Korinth sind gleich zwei Repliken, die um 1700 restaurierte Kopie in Plombières und die im 17. Jahrhundert restaurierte Herme im Palazzo Altemps (ex Ludovisi) als weiblich – die Herme galt bis in das 19. Jahrhundert als Vesta[107] – ergänzt worden. Da außerdem eine dritte, in Korinth gefundene Replik noch im Jahr 1971 irrtümlich als weiblich identifiziert wurde[108], gelang es erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, das Geschlecht des statuarischen Typus zu bestimmen[109]. Ähnlich ist es einem Zwitter ergangen, den ein für den Kardinal Richelieu tätiger Restaurator im 17. Jahrhundert erschaffen hat, indem er das Unterteil einer Statue des Dionysos Typus Jacobsen mit dem nackten Leib einer Venus (mit modernem Kopf) kombiniert hat[110]. Beide Teile sind bis zum Jahr 2011 für zusammengehörig gehalten worden[111].
25Das Resultat einer nachantiken Umarbeitung ist schließlich auch der reitende Commodus der Sammlung Mattei (Abb. 17), der es vor allem im 18. Jahrhundert zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat[112]. Aus Spinolas genauer Untersuchung der Figur geht hervor, dass Baldassare Mari den antiken Torso einer Amazone durch die Verbindung mit einem nicht zugehörigen antiken Kopf in eine männliche Darstellung transformiert hat[113].
Resümee
26Die in Boston, Dresden und Rom aufbewahrten drei weiblichen Statuen, denen das Hauptaugenmerk des Beitrags gilt (Abb. 2. 8. 10), zeichnen sich zunächst einmal dadurch aus, dass sie Einzelstücke sind, sich also nicht mit Repliken zu statuarischen Typen zusammenschließen. Die Bildhauer haben bei der Herstellung der drei Skulpturen jedoch offenbar mit Abgüssen hochberühmter Statuen aus klassischer und hellenistischer Zeit operiert. Die nackten Vorbilder wurden ›angezogen‹, mit anderen Attributen ausgestattet und erhielten außerdem ein neues Geschlecht. Die formale Orientierung an berühmten Vorbildern dürfte den Herstellungsprozess erleichtert haben; außerdem konnten die Umdeutungen auf diese Weise den Eindruck erwecken, Kopien von Werken aus der Blütezeit der griechischen Kunst, geschaffen von besonders berühmten Bildhauern, zu sein. Kenner der griechischen Kunst hatten indes auch die Möglichkeit, die extravaganten Umdeutungen so aufzustellen, dass sie zusammen mit ›normalen‹ Kopien des jeweiligen statuarischen Typus in Augenschein genommen werden konnten. In solch einem Fall muss den Betrachtern die formale Übereinstimmung sofort aufgefallen sein.
27Auch unter den Skulpturen aus spät- und nachantiker Zeit begegnet man gelegentlich Werken, bei denen es zu einem Wechsel des Geschlechts gekommen ist. Während die spätantiken Transformationen im Zusammenhang mit den eingeschränkten Möglichkeiten der Beschaffung großer Marmorblöcke zu sehen sind, lässt sich die in der Neuzeit ab und an praktizierte Kombination von Teilen von Statuen unterschiedlichen Geschlechts vielfach darauf zurückführen, dass bei manch einem Kopf weder die Gesichtsbildung noch die Frisur eindeutig Aufschluss über das Geschlecht gibt.
Abstracts
Zusammenfassung
Geschlechtswechsel in der antiken Skulptur
Sascha Kansteiner
Ausgangspunkt des Beitrags ist die große Gruppe von römischen Skulpturen, die ein griechisches Original im Großen und Ganzen getreu wiedergeben, es aber inhaltlich abwandeln, die sog. Umdeutungen. Wie weit der Spielraum reicht, der sich den Bildhauern bei diesem ambivalenten Umgang mit Statuen klassischer und hellenistischer Zeit bot, veranschaulichen einige Extremfälle, in denen nicht nur die Attribute und die Bekleidung des Originals verändert, sondern sogar das Genus transformiert worden ist. Zu solchen Schöpfungen kam es offenbar dann, wenn Bildhauer mit der Aufgabe konfrontiert waren, Statuen anzufertigen, für deren Kreation das einschlägige Repertoire an Abgüssen griechischer Originale nichts Passendes parat hielt, etwa eine weibliche Figur aus dem Gefolge des Bacchus oder ein Hirtenmädchen. Durch die Orientierung an einer im weitesten Sinn ›klassischen‹ Form war es möglich, beim Käufer den Eindruck zu erwecken, dass eine Statue trotz ungewöhnlichen Sujets auf einem Vorbild aus der Blütezeit der griechischen Kunst fußt. – Die Besprechung der Spezial-Umdeutungen bietet außerdem die Gelegenheit, die Überlieferung zweier äußerst beliebter statuarischer Typen des Dionysos vorzuführen, die in der Forschung so gut wie unbekannt geblieben sind. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf die Transformation des Genus bei Statuen in sekundären Zusammenhängen, also in der Spät- und in der Nachantike.
Schlagworte
Statuen des Dionysos, Geschlechtswechsel, Kopienproduktion, Umdeutungen
Abstract
Change of Gender in Ancient Sculpture
Sascha Kansteiner
The point of departure for this contribution is the large group of Roman sculptures that more or less faithfully reproduce a Greek original in form but alter its content, known as transformations. Just how much latitude sculptors had in the ambivalent use of statue types from Classical and Hellenistic times is illustrated by a few extreme cases in which not only the attributes and the attire of the original were changed, but even the gender was, too. These creations came about, it appears, when a sculptor was confronted with the task of making statues for which nothing suitable was available in the respective repertoire of casts of Greek originals, for instance a female figure from the retinue of Bacchus or a shepherdess. If he kept to forms that were classical in the broadest sense, the sculptor could give the customer the impression that a statue, despite its unusual subject, still derived from an archetype from the heyday of Greek art. Discussion of these special transformations, furthermore, offers an opportunity to exhibit two exceptionally popular statue types of Dionysos that have remained all but unknown in research. We conclude with a look forward to the transformation of gender in statues in secondary contexts, i.e. in late and post antiquity.
Keywords
statues of Dionysos, change of gender, copy production, transformations
Einleitung
Artemis im Typus des Dionysos Baiae
Hirtin im Typus des Paniskos
Bacchantin im Typus des Dionysos Thermenmuseum 74026
Weitere Geschlechtswechsel
Fragliches
Geschlechtswechsel bei Gruppenfiguren
Geschlechtswechsel bei Köpfen
Sekundäre Geschlechtswechsel
Nachantike Geschlechtswechsel
Resümee
Abstracts