Problematiken in der Erforschung von koptischen liturgischen Gesangstexten
Einführung
1Die Erforschung koptischer Gesänge – hierunter sollen im Rahmen dieses Textes die vor allem im Rahmen der Gottesdienste der koptisch-orthodoxen Kirche Ägyptens (hiernach: Koptische Kirche) gesungenen Vokalstücke verstanden werden – hat trotz einer langen Forschungstradition weiterhin ein großes Erkenntnispotential, insbesondere hinsichtlich der Texte und ihrer Verortung in der Liturgie[1].
2Bereits 1643 veröffentlichte Athanasius Kircher sein Werk Lingua Aegyptiaca Restituta, in welchem er neben einem dreisprachigen Wörterbuch Koptisch – Latein – Arabisch auch verschiedene Facetten der ägyptisch-koptischen[2] Kultur und Geschichte behandelt. Im zweiten Kapitel geht er kurz auf die Vokalmusik ein, beschreibt Klang und Vortrag und gibt einen Auszug von einem Gesang aus der missa solemnis [3]. Mehr Angaben als die Einbindung in die missa solemnis finden sich keine und weder auf Text noch Melodie[4] wird weiter eingegangen. Mit dieser aus heutiger Sicht sehr vagen Thematisierung findet er sich historisch gesehen in bester Gesellschaft.
Liturgische Gesänge in der ägyptischen Spätantike
3Dass der frühe christliche Psalmengesang als ein zumindest textlich gefestigtes Konvolut gesehen wurde, lässt sich bereits bei den frühesten Kirchenvätern erkennen: Athanasius der Große (ca. 300–373) befasst sich in seiner Epistula ad Marcellinum auch mit der Frage nach der Textbeständigkeit: »Man umhülle es [scil. das geschriebene Psalmenwort] aber nicht in gefälliger Weise mit weltlichen Worten, noch versuche man die Ausdrücke umzugestalten oder ganz zu verändern, sondern man trage in ganz ungekünstelter Weise das Geschriebene vor und singe es, wie es ausgesprochen ist (...)«[5].
4Am Ende des 4. Jahrhunderts reiste ein Mönch namens Palladios (von Helenopolis; ca. 364–430) nach Ägypten, um dort die sog. Wüstenväter, die im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus bekannten asketischen Mönche[6], aufzusuchen und deren wundersame Lebensweise und Weisheit zu erfahren. Über seine Reisen, welche ihn schließlich durch das Mediterraneum und bis an das südlichste Ende Ägyptens brachten, verfasste er einen Bericht für Lausos, den praepositus sacri cubiculi am Hof Theodosius II.; dieser Bericht ist als Historia Lausiaca bekannt geworden. In insgesamt 71 Kapiteln beschreibt Palladios seine Erlebnisse, Beobachtungen und Dinge, die ihm von anderen berichtet worden sind, worunter sich in sechs Kapiteln auch Erwähnungen von Gesängen finden[7]. Hierbei handelt es sich erwartungsgemäß vor allem um Psalmengesänge, allerdings werden keine konkreten Psalmen genannt. Dies mag zum einen an einer Sprachbarriere gelegen haben – Palladios war seinen eigenen Schilderungen nach zu schließen der koptischen Sprache nicht mächtig und musste sich, sofern seinen Gesprächspartnern keine gemeinsame lingua franca zur Verfügung stand, auf einen Dolmetscher verlassen[8]. Zum anderen sind im Rahmen seiner Berichte und (Nach-)Erzählungen zum Teil wechselnde Psalmen, etwa bei den Gesängen der Mönche der Nitria bzw. Sketis, anzunehmen; die Nennung spezifischer Psalmen war überdies im Kontext seiner Historia nicht relevant.
5In der Klosterregel des Pachom (gräzisiert auch Pachomios bzw. latinisiert Pachomius)[9] sowie der zeitlich späteren des Schenute von Atripe[10] werden alle Lebensbereiche der koinobitischen Mönche (und Nonnen, für welche etwas abweichende Regeln gelten) bestimmt. Während die Regel des Pachom größtenteils aus späteren Übertragungen bekannt ist, wird von Palladios erwähnt, dass in Tabennese sowohl vor jedem Tischgebet ein Psalm zu singen war[11] als auch, dass bei Abholung einer verstorbenen Nonne die Mönche unter Psalmengesang den Fluss hin zum Frauenkloster überquerten[12].
6Fast zeitgleich mit Palladios pilgerte auch eine Frau namens Egeria bzw. Etheria o. ä.[13] in das Heilige Land, u. a. nach Jerusalem und nach Piramesse in Ägypten, und verfasste ihrerseits einen Reisebericht, der sich dezidiert an Frauen (»dominae uenerabiles sorores«[14]) richtete. Sie unterscheidet deutlich die verschiedenen Formen der Gesänge und nennt sie »ymnos vel antiphonas«[15] und weiterhin auch »psalmi et antiphonae«[16], also Hymnen, Antiphone und Psalmen[17]. Diese werden »apte diei ipsi uel loco«[18] ausgewählt.
7Etwa ein Jahrhundert später wurden die sog. Apophthegmata Patrum (je nach Version auch Gerontikon bzw. Alphabeticum) verfasst, welche Texte zu den frühesten und offenbar als bedeutend erachteten Kirchenvätern, Mönchen und Asketen beinhalten. Es können sowohl (angebliche) Sentenzen dieser Personen als auch Anekdoten aus ihrem Leben sein, häufig mit Wunderelementen wie Heilungen oder göttlichen Interventionen. Hier finden sich neben etlichen allgemeinen Nennungen von (Psalmen-)Gesängen auch mehrfach genauere Angaben zu den Psalmen und anderen Gesangstexten.
8In einer Kurzanekdote zu Antonius dem Großen[19], dem bedeutendsten Begründer und Ideal des ägyptischen Eremitentums, wird diesem offenbart, dass er auf gleicher Stufe wie ein weltlicher Arzt stehe, der neben seinen gottgefälligen Werken »den gesamten Tag damit verbringt, mit den Engeln das Trishagion (p-shoment-n-hagios) zu singen«[20].
9In einer anderen Erzählung fungiert Psalm 89, 10 als Katalysator zur Bekehrung des Abbas Apollo: Apollo erreicht die Sketis mit vierzig Jahren und verpflichtet sich, in Anlehnung an die in diesem Psalm angesprochenen achtzig Jahre Lebenszeit, den Rest bzw. die zweite Hälfte seines Lebens in Buße zu verbringen[21].
10Abgesehen hiervon sind die Erwähnungen von Gesängen auch in den Apophthegmata üblicherweise unbestimmt: Es wird angegeben, dass Psalmen gesungen werden, nicht aber welche.
Nachantiker Wandel
11Dass ein gewisser Wandel innerhalb der koptischen Kirche nach der arabischen Eroberung stattfand, welcher sich auch in den zur Verfügung stehenden Quellen zu Gesängen niedergeschlagen hat, lässt sich anhand verschiedener Quellen nachvollziehen. Zu nennen wären zunächst Neukompositionen, etwa durch den Bischof Kyriakos von Bahnasa [22] oder den Kantor Sarkis[23].
12Der langsame Niedergang der koptischen Sprache als Verwaltungs- und Alltagssprache zugunsten der arabischen Sprache, welche bis heute die Hauptsprache Ägyptens ist, scheint auch auf die Liturgie übergegriffen zu haben: In der sog. Apokalypse des Samuel von Kalamun, vermutlich erst nach dessen Tod verfasst, wird nachdrücklich vor der Annahme arabischer Lebensweise und insbesondere vor dem Eindringen der arabischen Sprache und der damit verbundenen Verdrängung des Koptischen aus der Kirche gewarnt[24]. Es ist anzunehmen, dass dieser Prozess bei der Komposition des Textes bereits im Gange war, spätestens unter Patriarch Gabriel II Ibn Turaik (?–1145) wurde festgelegt, dass das Vaterunser, die Doxologie und das Glaubensbekenntnis von den Bischöfen den Gläubigen »in the language they know and understand«[25] beigebracht werden sollten, folglich in dieser Zeit in Arabisch. Und tatsächlich sind viele koptische Handschriften, und nicht nur solche mit Gesangstexten, vom Mittelalter an mit arabischer Schrift und Sprache versehen: Dies können einzelne Wörter, Kolophone und Titel sein, aber auch Übersetzungen des Textes (i. d. R. als Kolumne rechts vom koptischen Teil) bis hin zu komplett arabischen Passagen. Allerdings erhielt sich Koptisch als Liturgiesprache und wurde zumindest in diesem Bereich nie vollständig verdrängt.
13Eine materielle Neuerung stellt zudem die Verbreitung von (Hadern-)Papier als Schriftträger dar: Dieses zunächst aus China stammende Material verbreitete sich im Zuge der arabischen Eroberung auch bis nach Ägypten; Papiermühlen sind in Fustat , im Raum des heutigen Kairo, etwa ab dem 10. Jahrhundert nachgewiesen[26]. Aufgrund der im Vergleich zu Papyrus und Pergament günstigeren Preise, setzte sich das Papier mehr und mehr durch[27]. Auf losen Blättern und in gebundenen Codizes wurden nun in größerem Rahmen auch Gesangstexte zumindest partiell festgehalten (Abb. 1).
Problematiken der Erforschung
14Während in den spätantiken Schilderungen vornehmlich die Anonymität der Gesänge eine Problematik darstellt, weisen selbst Handschriften, in welchen Gesangstexte enthalten sind – im inzwischen mittelalterlichen Ägypten nicht mehr nur reine Psalmen, sondern auch Neukompositionen und Paraphrasen – ihre eigenen Schwierigkeiten in der Erforschung der Texte auf: Es ist erkennbar, dass es zum Teil erhebliche Varianz[28] in den erhaltenen Texten gibt und Kürzungen von offenbar als bekannt vorausgesetzten Textabschnitten sind üblich.
15Eine weitere Schwierigkeit ergab sich aus dem beginnenden Interesse Europas am koptischen Christentum und seinen Gesängen: Während Athanasius Kircher einer der frühesten europäischen Gelehrten war, der sich hiermit befasst hat, beginnt eine Beschäftigung mit diesem Themenfeld im Vatikan und hiervon ausgehend auch im weiteren Europa bereits vor seiner Zeit. Spätestens mit dem Konzil von Florenz 1439 wurde eine Kommunikation der Ost- und Westkirche(n) wieder aufgenommen, auch mit dem angestrebten Ziel einer Wiedervereinigung[29]. Ein gewisser Austausch zwischen der koptisch-orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche scheint zumindest ab dieser Zeit bestanden zu haben. Im Zuge desselben wurden mehrfach koptische Geistliche nach Rom gesandt, von denen zwei an dieser Stelle kurz vorgestellt werden sollen, da sie für die hier behandelte Thematik interessant sind.
16Der erste wurde unter dem Namen Josephus Barbatus (ca. 1570er–?) bzw. Josephus Abudacnus oder auch Abudacnus der Kopte bekannt, wenngleich sein ursprünglicher arabischer Name Yusuf Ibn Abu Dhaqn lautete. 1595 wurde er nach Rom gesandt und konvertierte dort zum Katholizismus[30]. Er verfasste ein Buch, das entgegen dem Titel Historia Jacobitarum, seu Coptorum, in Aegypto, Libya, Nubia, Aethiopia tota & parte Cypri Insulae habitantium weniger eine Geschichte als vielmehr eine Schilderung der Sitten und Gebräuche der Kopten darstellt. Hierunter fallen auch Berichte von Aufbau und Durchführung des Gottesdienstes. So berichtet er in Kapitel 7 De Ceremoniis Ecclesiasticis vom Ablauf des Gottesdienstes und thematisiert mehrfach die dabei gesungenen Teile, z. B., dass nach Vesper und Schlussandacht gemeinsam diesbezügliche Gebete und Hymnen gesungen werden[31].
17Der zweite koptische Geistliche, der ebenfalls nach seiner Entsendung in den Vatikan zum Katholizismus konvertierte, war Raphael Tuki (1701–1787, auch: Tukhi), der für Rom die Gesangstexte der Kopten in mehreren thematischen Bänden niederschrieb. Da er hierbei von Textkürzungen weitestgehend absah und die ihm bekannten Texte vermutlich vollumfänglich aufschrieb, sind seine Veröffentlichungen für die Betrachtung der Gesangstexte ein seltener Glücksfall, da hierin auch Versionen und Teile enthalten sind, die nicht in dem heutigen, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts festgelegten Kanon zu finden sind.
18Tatsächlich stellt genau diese Vereinheitlichung der Gesangstexte eine eigene Schwierigkeit dar, insbesondere gekoppelt mit den älteren Quellen, in welchen Textteile gekürzt wurden. Da es ab diesem Zeitpunkt nur noch eine von kirchlicher Seite akzeptierte Version der Texte gab, waren Handschriften, in welchen Varianten vorkamen, nicht länger für den liturgischen Gebrauch nutzbar. Womöglich auch aus diesem Grund, wenn nicht zusätzlich oder exklusiv aufgrund von Beschädigungen, mögen Manuskripte aus den Bibliotheken aussortiert worden sein[32]. Inzwischen findet sich eine unklare Zahl koptischer (nach)mittelalterlicher Handschriften in den verschiedensten Sammlungen, Museen und auch im Kunst- und Privathandel, in der Regel ohne zugehörige Provenienzangaben.
19Dies führt zu einer letzten Erschwernis in der Erforschung der Gesangstexte: Zunächst einmal ist die fehlende genauere Provenienz – sofern das Manuskript in koptischer Schrift und Sprache verfasst ist, stammt es mit höchster Wahrscheinlichkeit aus Ägypten – ein Problem in der räumlichen Verortung, was für die Erfassung von möglichen Lokaltraditionen jedoch notwendig wäre. Der noch ausbaufähige Stand der koptischen Paläographie trägt hierzu ebenfalls bei, da diese insbesondere für nachantike Manuskripte bislang nicht so gut erforscht ist, dass man eine hinreichend sichere paläographische Datierung vornehmen könnte[33]. Um zumindest den Inhalt zu erfassen, ist zunächst jedoch nötig, dass eine des Koptischen mächtige Person diese Manuskripte bearbeitet, d. h. übersetzt und die Inhalte identifiziert, was jedoch in vielen Sammlungen und Museen (und selbstverständlich auch bei Privatsammlungen und Kunsthandel) nur selten gegeben ist, wodurch die Manuskripte entweder nur allgemein als »koptisch«, ggf. auch noch als »liturgisch« bestimmt werden oder nur wenig bis keine Beachtung finden.
Erkenntnispotential und Ausblick
20Zusammenfassend sei an dieser Stelle bemerkt, dass ungeachtet der verschiedenen Problematiken, die eine umfassende Erforschung der Gesangstexte erschweren mögen, gerade diese in anderen Kontexten auch einen interessanten Einblick geben können. Es lässt sich etwa das Bild eines spätantiken, länderübergreifenden, christlichen Austauschs erkennen, in welchem Pilgernde auch über Sprachgrenzen hinweg mit den örtlichen Gläubigen in Kontakt treten konnten. Ebenso lässt sich erkennen, wie die verschiedenen Phasen der unterschiedlichen muslimischen Herrscher ab der Eroberung Ägyptens sich in der Kultur der koptischen Kirche und ihrer Angehörigen niederschlugen, bis schließlich vor annähernd 500 Jahren die außerägyptische, insbesondere europäische wissenschaftliche Beschäftigung mit der koptischen Kultur begann. Dies zunächst unter dem Gesichtspunkt einer erhofften Wiedervereinigung der Kirchen und heutzutage aus Interesse sowohl seitens der koptisch-orthodoxen Diaspora selbst als auch der Vertreter unterschiedlichster Disziplinen.
21Perspektivisch kann die Erforschung der koptischen Gesangstexte einen ersten Schritt bzw. integralen Teil weiterer Untersuchungen darstellen. Primär wäre eine umfangreichere Identifikation und Bearbeitung auch von späteren koptischen Manuskripten ein wichtiger Anfang, um sich abzuzeichnende Varianz und Entwicklungen auch quantitativ erfassen zu können.
22Neben den innerägyptischen Phänomenen wäre zudem auch eine Betrachtung der ägyptischen koptisch-orthodoxen Materialien gemeinsam mit denen eng verbundener anderer Kirchen – genannt seien hier beispielsweise die bis Mitte des 20. Jahrhunderts der koptisch-orthodoxen Kirche zugehörige äthiopisch-orthodoxe Kirche oder auch das Christentum im nubischen Raum – interessante Fortsetzungsmöglichkeiten.
Zum Dissertationsprojekt
23Basis und Ausgangspunkt des zugehörigen Dissertationsprojektes ist eine kleine Gruppe von unvollständigen Papierhandschriften in ein bis 14 kleinformatigen Einzelblättern, welche sich in der Sammlung der Papyrologie der Universität Heidelberg befinden. Diese sind insgesamt in bohairisch-koptischer Sprache mit minimalen arabischen Zusätzen – primär in Überschriften – gehalten und beinhalten vornehmlich Gesangstexte[34].
Abstracts
Zusammenfassung
Problematiken in der Erforschung von koptischen liturgischen Gesangstexten
Die Entwicklung koptischer liturgischer Gesangstexte ist ein Forschungsfeld, in welchem noch viele Erkenntnisse zu erwarten stehen. Für die Bearbeitung ist es wichtig, sich auch der Schwierigkeiten, welche bei der Bearbeitung des Themas auftreten können, bewusst zu sein. Diese können sowohl aus den historischen Quellen selbst heraus entstehen, wie auch erst im Laufe der späteren Bearbeitung auftreten.
Schlagwörter
Ägypten, Forschungsgeschichte, Gesangstexte, Hymnen, Koptisch-Orthodoxes Christentum, Manuskripte, Mittelalter, Neuzeit, Papier, Psalmodie, Spätantike
Abstract
Difficulties in researching Coptic liturgical lyrics
The development of Coptic liturgical lyrics is a field that has the potential for many new findings. It is important, however, to be aware of the various difficulties one might be faced with when working in this field of study. Both the historical sources themselves as well as later processes can cause issues.
Keywords
Coptic-Orthodox Christianity, Egypt, hymns, Late Antiquity, lyrics, manuscripts, Middle Ages, Modern Era, paper, psalmody, research history
Einführung
Liturgische Gesänge in der ägyptischen Spätantike
Nachantiker Wandel
Problematiken der Erforschung
Erkenntnispotential und Ausblick
Zum Dissertationsprojekt
Abstracts